M. fragte mich, nach dem ich etwas vorgelesen hatte, ob ich noch wütend sei. Das war eine einfache und präzise Frage. Ich antwortete darauf, was ich nicht hätte tun müssen. Aber, wie so oft, konnte ich den Impuls nicht an mir halten und da ich an diesem Abend sowieso sehr offen und gleichzeitig abwesend war, sagte ich: "Ja, klar bin ich noch wütend. Aber auch freundlich." Das kam in den letzten Jahren dazu und ich glaube ja, das wütend und freundlich sein, das selbe sein kann, bzw. beide Regungen genauso beschämend sein können. Zumindest, und das wollte ich hier schon länger mal zur Sprache bringen, wundere ich mich über mich, wenn ich freundlich bin, aber auch, wie sehr freundlich sein helfen kann. Nicht unbedingt, um eigene Interessen durchzusetzen, sondern auch auf der Straße, um zu signalisieren, dass ein mir entgegenkommender Mensch keine Angst haben muss, dass ich ihn umfahre. Denn viele Menschen sind gereizt unterwegs in den Straßen. Die Signalisierung guter Intentionen durch Lächeln kann da wirklich helfen. Und jetzt kriege ich das nicht mehr los, fürchte mich gar, dass die Menschen wütend werden, wenn ich nicht freundlich bin.
Dieses Schamgefühl, dass immer erst später auftaucht. Im Moment der Aktion ist es selten da. Wie auch vor sehr langer Zeit, als ich mal an einem fremden Brot nagte. Das trug sich zu, als ich mit 16 bei einer Frau und ihrem Sohn zur Untermiete wohnte. In einem alten Haus in Halle mit Kohleofen und Badeofen. Ich hatte mir günstiges Brot geholt (weil ich mein Geld für Schallplatten sparen wollte) und aß davon, wenn ich aus der Schule nach Hause kam und in den Pausen, die ich einlegte, wenn ich auf meiner Schreibmaschine Texte tippte, die später zu Songs wurden. Mein Zimmer hatte einen alten weiß gestrichenen Dielenboden und zwei Fenster, die absichtlich oder unabsichtlich falsch herum eingebaut worden. Das ankippbare schmalere Oberteil war unten. Was eigentlich auch ganz schön war.
Bis heute weiß ich aber nicht, ob das ein Akt der Rebellion der Maurer in der Planwirtschaft war oder es solche Fenster serienmäßig gab. Wenn ich so darüber nachdenke, macht es auch viel mehr Sinn, den unteren Teil klappbar zu gestalten. Denn bei den meisten neueren Fenstern ist der Griff für den oberen klappbaren Teil so weit oben, dass man ohne Leiter sowieso nicht rankommt und dieser damit so gut wie nie geöffnet wird. Zumal diese oberen Teile meistens nicht mal mit kleinen Stangen versehen sind, sonder einfach komplett nach unten klappen. Die einzige Verwendung der oberen Fenster, an die ich mich aus verschiedenen Behausungen erinnern kann, bestand darin, in Ermangelung ordentlicher Gardinen oder aus Angst vorm Bohren in Altbauwände, Bettlaken oder Decken in das Fenster zu klemmen. Das ist ja auch ein sehr gutes Zeichen für die Menschen auf der Straße, wie es um den eigenen Motivationszustand steht. Kein Bock auf Licht.
Woran ich mich noch erinnere, ist das Geräusch, dass entsteht, wenn man so ein Oberfenster nach langer Zeit mal öffnet. Es ist ein Reißendes, verursacht durch das Kaputtgehen vieler alter Spinnennetze, bzw. Nester, die diese bevorzugt zwischen Rahmen und Fenster bauen. Ich fragte mich schon immer, wie die Tiere dort hineingelangten. Schon früher schaute ich auch den Fliegen zu, die irgendwie zwischen die beiden Doppelgläser im Fenster meines Kinderzimmers gelangten und dann ewig versuchten wieder rauszukommen, aber in beide Richtungen immer wieder gegen unsichtbare Wände stießen. Da schämte ich mich nicht.
Aber ich schämte mich in der oben erwähnten Wohnung, weil ich anstatt von meinem eigenen Graubrot zu essen, an der Kruste des frischen Bäckerbrotes meiner Vermieterin nagte. Gelockt vom Duft, knaupelte ich ein ein bisschen an der Kruste rum, brach dann ein größeres Stück ab, was aber immer noch so aussah, als wäre es von selbst vom Brot gebrochen. Irgendwann fehlte aber wirklich viel Kruste und ich konnte es nicht auf die Mäuse schieben, denn in der Wohnung lebte auch eine Katze, die sich um diese gekümmert hätte. Später am Tag gab mir die Kindesmutter auch unmissverständlich zu verstehen, dass sie es bemerkt hatte. Wäre es heute passiert, hätte ich gelächelt, damals habe ich sicher einfach nur erschrocken gestarrt. Heute weiß ich um den Wert eines guten Bäckermischbrotes und kaufe mir oft ein solches. Beim nächsten Mal versuche ich mir mal bei der Wechselgeldrückgabe das Lächeln zu sparen, denn Starren ist günstiger.
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