Ich lag auf dem Bett und atmete. Es war morgens, soweit ich es beurteilen kann. Der Himmel war bedeckt - seit Wochen und so wurde es nie richtig hell. Die Wirklichkeit lag schwer auf mir, wie eine unsichtbare Gelatineschicht auf einer selbstgemachten Torte mit Fertigboden. Ich war eine der Früchte, und besagte Gelatine, drückte mich in den Pudding unter mir, jede Bewegung und jeder Gedanke schien durch die Schicht gebremst. Mir reichte das langsam und so versuchte ich mich auf meinen Atem zu fokussieren, während ich meine Arme leicht von meinem Frucht-Körper weg streckte. Dabei, so lernte ich es einst, macht es einen großen Unterschied, ob man die Handflächen nach unten oder nach oben dreht. Ich war verblüfft, wie anders es sich anfühlt. Mit den Handflächen nach unten strömt die Energie der Anspannung aus ihnen in den Boden und, so stellte ich es mir vor, kann sie gar nicht entweichen, sondern prallt immer wieder an den Händen ab und bleibt letztlich an ihnen kleben. Nach oben gedreht aber, scheint die Energie wie warme Luft hinauf und hinaus zu strömen. Als ich das zum ersten Mal tat, schien es mir, als würde ich gleich abheben und ein Stück über dem Boden schweben.
So lag ich da, mit geschlossenen Augen und fragte mich, ob ich gerade meditiere und pseudo-levitiere oder gleich einschlafe, weil ich einfach erschöpft war, bzw. mein Körper in den Schlafmodus geht, um der Anspannung zu entfliehen. Und ich faltete meine Hände über meiner Brust und spürte wie sich der Brustkorb hob und senkte, ließ es aber gleich wieder sein, weil mir meine Hände wie eine Absperrung erschienen, die den Energiefluss nach oben verhinderten. Noch eine Weile lag ich so da, starrte an die weißgraue Decke, die an einer Stelle zu flimmern begann, als ob sie sich verflüssigt, zu Gelatine wird und ich hob meinen rechten Arm und er war lang genug, die weißgraue Masse über mir berühren zu können. Und etwas zog mich dort hinein.
Ich ließ es geschehen, entkam der Torte und aus dem hellen Grau heraus begannen sich die Formen eines Schreibtischs langsam abzuzeichnen, es war der zweite Tag eines frischen Jahres. Ich hatte einen Lappen in der Hand und wischte Staub von der Tischfläche vor mir, in leicht abergläubischer Panik, dass man den Dreck des alten Jahres nicht mit ins neue nehmen sollte. Ich hatte es vor dem Jahreswechsel nicht geschafft, also versuchte ich es innerhalb der Toleranzzeit noch nachzuholen. Als ich wischte, durch den Staub niesen musste und ein Kiste voller Stifte zur Seite schieben wollte, hörte ich das leise Klirren von zerspringendem Glas. Ich konnte es nicht zuordnen, schaute in die Ecke zwischen Fenster und Tisch und sah, dass meine Putzaktion das kleine osteuropäische Leuchtkreuz erwischt hat, dass mir Style-Gott™ einst gab, erwischt hat. Das Leuchtkreuz sieht aus wie eine Glühbirne, nur das anstatt Draht zwei kleine Metallplatten in Form eines Kreuzes unter Vakuum zum Glimmen gebracht werden. Jetzt war sie kaputt und ich sammelte die Scherben auf und begann sofort an Unglück zu glauben, weil das am Anfang des Jahres passierte.
Aber ich musste auch los, es gab wie immer etwas zu tun, und rollte wenige Minuten später mit dem Fahrrad durch eine Straße. Genauer gesagt schob ich mein Fahrrad auf dem Fußweg und auf der anderen Seite sah ich eine Briefträgerin, die mit beiden Händen die Oberarme des Bezirksschornsteinfegers rieb, der dort an seinem Auto stand. Für einen Moment überlegte ich, die Straßenseite zu wechseln und es ihr gleich zu tun. Denn es soll ja Glück bringen, den Schornsteinfeger zu berühren und den Bezirksschornsteinfeger bestimmt noch mehr. Ich dachte, das wäre ein Zeichen, aber: ich entschied mich dagegen. Stattdessen betrat ich die Kaufhalle, die Ziel meiner Fahrt war - ich musste Rosen kaufen.
Der Gedanke verließ mich jedoch nicht, dass ich das Zeichen, den Hinweis missachtet hätte, wo ich doch das Glück gut gebrauchen könne, nachdem die Glashülle des Leuchtkreuzes zerbrach. Ich legte die gelben Rosen auf das Kassenband und wartete, bis ich dran war. Meinen Blick zu Boden gerichtet, sah ich auf dem gefliesten Boden einen einzelnen Cent liegen. Und ich konnte nicht anders, als nach einem kurzen Zögern diesen Cent aufzuheben - alles andere wäre Schicksalsverachtung blasphemischen Ausmaßes und hätte Konsequenzen gehabt, die weit über mein eigenes Fortbestehen hinausgereicht hätten. Und das konnte ich nicht verantworten. Ich hob den Cent auf und bemerkte, dass der Boden unter ihm leicht nachgab. Ich tippte die grauen Fliesen noch einmal an, und als wären sie die Oberfläche eines Gewässers, entstanden um meinen Finger kreisförmige Wellen. Ich zog den Finger kurz zurück, richtete mich auf, holte tief Luft und sprang mit den Füßen voran und einem leisen Platschgeräusch in den Fliesensee und ließ mich in den Pudding bis zum Grund des Tortenbodens sinken.
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