Ich sitze auf einer Bühne und Sorge für Musik zwischen Programmpunkten. Während diese laufen, es sind literarische Beiträge in verschiedenen Sprachen, sitze ich so regungslos wie möglich da, um nicht abzulenken. Einzig meine Augen sind in Bewegung und schweifen durch den Saal. In der zweiten Reihe bemerke ich einen sehr alten Mann, der mich mit schräg gekippten Kopf ansieht. Seine Augen sind zusammengekniffen, als würde er nachdenken, überlegen, woher mich kennt. Oder hat er mich nur als Fixpunkt ausgewählt, um sich ganz auf den gerade vorgetragenen Text zu konzentrieren. Vielleicht hat er ja nur noch ein funktionierendes Ohr, welches er schräg auf den Vortragenden richten muss. Er schaut mich auch weiter an, als ich seinen Blick erwidere, ihm standhalte. Ein Blickduell. Und da taucht ein Gedanke auf, ein Gedanke basierend auf Vergangenheit: Ich sinniere darüber, dass meine erste Vermutung vielleicht die richtige sein könnte und der Mann, darüber nachgedacht hat, woher er mich kennt und die Erkenntnis jetzt langsam in sein Bewusstsein sickert: Er erkennt in mir den Wehrmachtssoldaten, der 1941, er war 4 Jahre alt, plötzlich in der Tür des Hauses seiner Eltern stand und sie aufforderte, sich auf dem Kirchplatz des kleinen ukrainischen Dorfes zu versammeln. Als sein Vater nachfragt, was der Grund sei, stößt der Soldat ihm den Gewehrkolben in den Rücken, wodurch er stürzt und leblos am Boden liegen bleibt. Mit vorgehaltener Waffe zwingt der Soldat den Jungen und seine Mutter zum Weitergehen. Es ist Winter, die beiden werden mit anderen Bewohnern des Dorfes in ein Arbeitslager geschickt. Auf dem Weg dorthin verliert der Junge den Anschluss an seine Mutter. Er überlebt den Krieg, mehrere Lungen - und Mittelohrentzündungen von denen nur ein Hörverlust auf dem rechten Ohr zurück bleibt. Er wächst in Deutschland in einem Waisenhaus auf, kann Jura studieren und wird später Professor für historische Rechtswissenschaften an der Universität Berlin. Er besucht regelmäßig Literaturveranstaltungen. So auch heute. Und während er wie immer den Kopf leicht zur Seite neigt, um mit dem rechten Ohr den Vortrag besser zu verstehen, erkennt er in dem Musiker, der dort am Rand regungslos auf der Bühne sitzt, den jungen Soldaten der vor so langer Zeit für die Zerstörung seiner Familie verantwortlich war. Er starrt ihn an, der Musiker starrt zurück, kneift seine Augen zusammen und scheint darüber nachzudenken, woher ihm der alte Mann so bekannt vorkommt - er kann es sich nicht erklären, beginnt sich unwohl zu fühlen, als ob ein kalter Hauch vergangener Zeit von unten nach oben über seinen Rücken kriecht. Dann ist der Programmpunkt vorüber und ich setze die Hände auf die Gitarre, zupfe die Saiten an und erfülle den Raum mit Tönen. Der Alte ist verschwunden.
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