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Laubbläsergesang/Blauberrygestank


Der Klavierhocker auf dem ich saß, gab beim Drehen den Ruf einer Graugans von sich. Als ich ein paar Tage später durch den heimischen Wald fuhr, hörte ich durch das lichter werdende Blätterdach die echten Gänse rufen, verglich die Imitation mit dem Original, freute mich über die Ähnlichkeit und wusste, nun ist wieder Herbst. Zwischendurch schlich ich durch eine große Stadt und spürte meine eigene finanzielle Schwäche, weil dort das Treiben nach Geschäftigkeit und Produktivität ausgerichtet war und auch die Menschen gepflegt wirkten und ihr Erscheinungsbild nach Erfolg aussehen lassen wollten. Dabei ist natürlich zu erahnen, dass die meisten von ihnen buckeln müssen, um überhaupt über die Runden zu kommen. Das glaube ich hinter den lächelnden Gesichtern zu sehen, die dem Versprechen des Erfolgs hinterher jagen. Und an jeder Ecke ein Konsum-Angebot, Kaffee, schöne Textilien. Hier geht es einfach darum, Leistung zu bringen und sich dafür auch zu belohnen. 

Ganz anders als hier, also dort, wo ich "lebe". Da ging es schon los mit dem irritierten alten Mann, der mit dem Fahrkartenautomaten nicht klar kam. Zwei Flaschen Bier neben sich, redete er undeutlich auf die Menschen ein, die sich eine überteuerte Karte für den Nahverkehr ziehen wollen. Ich hab dann die richtigen Tasten gedrückt, damit er sein Ticket bekommt - er musste in die selbe Bahn wie ich steigen. Und in der Hoffnung, dass er mir kein weiteres wirres Gespräch aufdrängt, ging ich ans hinterste Ende des kleinen Dieselzugs und stieg ein. Doch tatsächlich kam auch der alte Säufer genau durch die Tür in das Abteil, in dem ich herumstand. Er hatte mich aber offensichtlich schon wieder vergessen, denn sein Blick streifte durch den gesamten Wagen und er ruf-murmelte vor sich hin, dass es hier ganz schön voll ist, weil keiner mehr arbeiten geht. Die Stadt der Arbeit ist das hier wirklich nicht mehr. 

Die fünfminütige Fahrt führte in einem Bogen am Rand der Stadt vorbei, so schien es zumindest. Denn links und rechts neben der Schiene nur verwucherte Haltestellen und jede Menge Brachen, Brachen, Brachen. Ein wohliges Gefühl erfüllte mich. Bevor ich ausstieg, dachte ich noch einmal über die immer leeren ganz kleinen Abteile der ersten Klasse in Regionalbahnen nach. Die scheinen mir nur ein Symbol zu sein. Ein verblasstes Versprechen des gesellschaftlichen Aufstiegs für die Fahrgäste der zweiten, wenn man nur hart genug arbeite. Aber hier hat ja keiner Bock auf Arbeit oder weiß, dass es sich nicht lohnt.

Und sofort schwenkten meine Gedanken hinüber in ein Fluchtchaosszenario: Eine große Masse an Menschen muss ein Gebiet verlassen, wegen Atomschlag, Feuerwand oder sonstigem. Es herrscht noch kein Mord- und Totschlag, aber die meisten wissen, dass es zu Ende geht. Die Bahnhöfe und Züge sind extrem voll und überforderte Zugbegleiter versuchen noch irgendwie die Kontrolle zu behalten. Einer spricht eine Person an, die sich in das kleine Symbolabteil der ersten Klasse gesetzt hat. Ob die Person denn ein Ticket für die erste Klasse habe, fragt der Zugbegleiter. Und die Person antwortet: "Als würde das jetzt noch eine Rolle spielen." Und dem Zugbegleiter dämmert es, dass die Person recht hat, bevor er von weitere Fahrgäste zur Seite gestoßen wird, die in das bis da hin leere Abteil drängen. Kipppunkte der Gesellschaft...

Ich kehre zurück in die Wirklichkeit und steige aus dem Zug. An der Ampel, auf der anderen Seite der Straße steht mir ein alter Bekannter gegenüber, er sieht frisch aus, vor seiner Brust hängt ein Baby, in seiner Hand ein Bier. Ich rufe ihm zu, ob er sich erinnern kann, wie wir hier, ich zeige nach links die Straße runter, vor langer Zeit gesoffen haben. Und er nickt wissend. Dann wechselt die Ampel von rot auf grün, eine Krähe auf dem Verkehrsmast fliegt mit einem großen Stück alter Pizza davon und auch wir laufen aneinander vorbei - jeder in seine Richtung, dem verblassten Versprechen des Erfolgs entgegen.

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