Unendlichkeit - er sah sie, als er klein war. Sich selbst 100 mal. Wie das geht? Er hatte davon gelesen und kramte an einem einsamen Nachmittag aus einem Schrank seiner Eltern so einen kleinen schmucklosen Schminkspiegel, vielleicht 3x7cm groß, seine Kanten waren etwas rauh und hielt ihn vor seine Brust, hinein in den Norm-DDR Badspiegel, der noch recht lange in die 90er Jahre im Bad seiner Eltern hing.
Und plötzlich entstand da ein unendlicher Tunnel aus Spiegeln und Jungen und der kleine Racker war völlig davon eingenommen. Am nächsten Tag hat er es auf dem langen Flur, in der elterlichen Wohnung noch einmal ausprobiert. Am einem Ende des Flurs befand sich der Ankleidespiegel, am anderen Ende stand er mit dem Badspiegel und konnte so noch tiefer in den Tunnel aus Jungs schauen.
Nachdem er das selbe Phänomen vorgestern erneut ausprobieren wollte, aber übernächtigt nicht in der Lage war sich selbst "in Focus" zu biegen und des nach einigen Verrenkungen aufgab, wurde ihm im mühsam errungen Schlaf, auf einmal klar, dass die vielen Selbst und Spiegel, die er damals erzeugte,nicht nur optische Erscheinungen sind, sondern vielleicht sogar, die unendliche Tiefe und Facettenreichheit der Seele, der Persönlichkeit.
Und dass es ganz nützlich sein kann, diesen Move nicht zu verlernen und sich selbst in Staunen zu versetzten. Rührt vielleicht auch der Drang in die Gesichter anderer Menschen zu schauen aus diesem Verlangen? Oder war es damals die einzige Möglichkeit eines zurückgezogen lebenden Jungen, in Kontakt mit anderen Menschen zu kommen. Wie so ein Wellensittich, dem ein Spiegel in den Käfig gehangen wird, damit er Gesellschaft hat.
Letztlich klingt das jetzt alles dramatisch nach Caspar Hauser, aber es ist nur eine zurechtgeschobene Erinnerung, die mir durch den Kopf rauschte, nach einer berauschten Woche. Denn, meine Kindheit war recht rosig. In teilweise selbstgewählter Einsamkeit und relativer Ungestörtheit und viele viele Nachmittage, versunken in Berge von Lego.
Heute verbringe ich manche Morgen und Abende immer noch vor dem Spiegel (ich habe auch einen aus DDR-Bestand, einst aus einer Hausmeisterkammer, in der es nach Rasierwasser und Schweiss stank entwendet), um mich zu vergewissern, dass ich noch da bin und das ich das bin. Bin ich das? Manchmal bin ich unsicher.
Aber der Frühling kommt ins Bayou. Und das berauscht mich, wie jedes Jahr aufs neue. Und auch diesen Rausch gilt es sich, wie den des Spiegels zu erhalten. Dann werden andere auch weniger wichtig. Und damit meine ich Menschen und Räusche. Welches dieser beiden Substantive ironisch gemeint ist, kann sich jeder selbst aussuchen.
Für immer jung,
Timm.
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