Eine Horde kleiner Kinder, vielleicht gerade in die Schule gekommen, läuft den Fußweg entlang. Alle tragen diese neonfarbenen Schutzwesten, die von Verkehrsvereinen nach Sicherheitsschulungen verteilt werden. Als ich ein Kind war und so eine Schulung bekam, schenkte man uns lediglich Mützen und diese waren nicht mal neon-farben. Die Kinder tippeln also heran und eine ihrer Betreuerinnen spricht zu ihnen über einen Film. Sinngemäß sagt sie: "Wenn ihr alt genug seid, schaut euch mal einen Film an. Da kommt ein roter Ballon drin vor. Und danach wollt ihr keinen Ballons mehr auf der Straße hinterher rennen." - zunächst verstehe ich nichts, sehe dann aber einen blauen Luftballon zwischen zwei Autos liegen. Die Kinder wollten ihn wohl aufheben, bzw. ihm nachlaufen.
Aber warum versucht die Erzieherin die Kinder davon abzuhalten, in dem sie von einem Film erzählt, den die Kinder noch nicht gesehen haben? Ich bin erstaunt über diese pädagogische Maßnahme, die sich auf zukünftiges bezieht. Und verstehe jetzt welchen Film sie meint: Stephen Kings "ES". Die 90er-Version dieses Films habe ich im Alter dieser Kinder gesehen, auf VHS bei einem Schulfreund. Und ich hatte jahrelang Angst vor zufallenden Türen, versuchte, wenn ich aus der Schule nach Hause kam, schneller an der Wohnungstür in der dritten Etage zu sein, als es dauerte, bis die alte Haustür unten ins Schloß fiel. Und Toiletten, insbesondere Nachts, wollte ich immer schnellstmöglich wieder verlassen. Denn "ES" kam ja immer aus der Kanalisation. Einen Hauch dieser Angst spüre ich auch heute noch im Dunkeln und erschrecke mich manchmal über laute Toilettenspülungen.
Am schockierendsten aber war, dass uns Kindern damals klar wurde, dass "ES" jederzeit in jeder Form, also auch als Freundin oder Freund, Mutter oder Vater auftauchen könnte, man sich also nie sicher fühlen konnte. Das hat mich fertig gemacht, jahrelang und es schien mir, als hätte mir der Film einen Teil meines naiven Kinderglücks gestohlen. Vielleicht bedeutet erwachsen werden genau das: Stück für Stück das naive Glück verlieren mit dem man auf die Welt kommt und feststellen, das selbige Welt ein böser Ort ist oder wenn nicht böse, dann zumindest gleichgültig gegenüber dem eigenen Schicksal. Und dann versucht man sich den Rest seines Lebens das Glück wieder zurückzuholen, über Beziehungen, Erfolge, Konsum. Jedesmal aber verfliegt das gute Gefühl aber schneller als es kam und die Jagd geht wieder von neuem los.
Ich sehe in die ahnungslosen, fröhlichen Gesichter der Neonwesten-Kinder während ich an ihnen vorbeirolle. Ich hoffe, dass ihnen das Unheil möglichst lange erspart bleibt, weiß aber gleichzeitig, dass ihre Zukunft nicht rosig aussehen wird. Und für den Bruchteil einer Sekunde haben sie alle Clownsgesichter mit gelben Augen und langen Reißzähnen und lachen mich höhnisch an.
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