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Schön abgedunkelt/Die Scheise (sic!) genannt Leben


Gerade habe ich mir ein Brot namens "Kleiner Rogger" gekauft und erinnere mich, wie wir in einer sogenannten "Projektwoche" in der Grundschule skeptisch bis verachtend dem Programmpunkt "Singen mit Ingo" entgegensahen. Wir waren alt genug (8?) um uns darüber lustig zu machen, hielten das für so eine Art Kloppi-Kindergarten-Show. Als wir dann aber in die Aula geleitet wurden und Ingo mit einer Intpretation des Superhits "Beinhart (Wie n Rocker)" von Torfrock sein Set eröffnete, flippten unser Kollektiv aus. Es wurde im Kreis gerannt, während Ingo das Rocknroll-Riff auf seiner Stratocaster spielte und das "R" im Wort "Rocker" im Refrain übertrieben rollen ließ. Keiner dachte an Rammstein, vor allem weil er das "CK" danach um so weicher fließen ließ so dass es wie das sanfte "G" im Roggen klang. Das hat er gut gemacht, denn er hätte auch mit einem Song der Kelly Family beginnen können. Das Kollektiv hätte ihn durch Häme vernichtet. 

Ich gehe übrigens davon aus, dass er den Lehrkörper im Vorhinein gefragt hat, auf welche Musik die Kids so stehen. Und da bei RTL gerade der "Werner Beinhart" Film als Wiederholung lief und wir den auch im Hort auf dem RFT Fernseher via VHS-Kassete angesehen hatten, war alles was den Film betrifft natürlich schwer angesagt. Aber auch die Kelly Family, insbesondere bei den Mädchen und Teilen des Lehrkörpers. Ingo hat deshalb natürlich auch "Angel" von den Kellys gespielt, was das Kollektiv (4-5 Jungs) mit übertriebenen Jammergesten kommentierte und ich vermute auch mit Verachtungsabsicht hämisch mitsang. Auf jeden Fall war ich total aus dem sogenannten Häuschen, konnte kaum glauben, wie geil diese Musikerlebnis gerade war. Das nächste Erlebnis dieser Art an das ich mich aktiv erinnerte war ein Festival-Auftritt von Slayer 5 Jahre später. 

Ingos Auftritt war auf jeden Fall ein weiterer Baustein beim Verbauen meiner Zukunft auch bekannt als "der Junge will jetzt Musiker werden"...pure Begeisterung, gerade auch, weil wir so zweifelnd an die Sache rangegangen sind und dann so positiv überrascht wurden. Mit erhitzten Leibern auf dem Weg zurück in die Klassenräume allerdings kam natürlich gleich ein Rückschlag auf unserem Ritt auf der Welle der guten Laune. Meine Grundschullehrerin kam uns entgegen, wir freuten uns, sie aber war wütend und auch traurig und sagte sinngemäß: "Und ihr habt euch auch über die Kelly Family lustig gemacht. Das war richtig gemein." Sie war ein richtig großer Fan dieser Band und wirkte wirklich getroffen. Und ich, war auch sofort betroffen, voller Scham und Schuld. Und überrascht. Denn ich hatte nicht gedacht, dass unsere, vielleicht auch nur meine, überdramatisierte gestische Darstellung des Angelo Kelly Gesangs so viel Aufmerksamkeit von der eigentlichen, also Ingos Performance abgezogen hat. 

Und es tat mir sofort leid. Ich weiß nicht, es kann sogar sein, dass die Lehrerin geweint hat oder zumindest Tränen in den Augen hatte. Und was war mit Ingo? War der jetzt total sauer? Wohl kaum. Der war sicher ganz andere Sachen gewöhnt und war sicher froh, dass dank "Beinhart" alles so gut verlaufen ist. Wieder einmal ein Argument, nicht zu wenig Zeit in die Gestaltung des dramaturgischen Bogens der Setlist (Songreihenfolge bei einem Konzert) zu investieren. Ich kann mich auch nur an diese beiden Songs erinnern. Vielleicht hat er auch noch "Die Dinosaurier werden immer trauriger" gespielt...das hat mir Big L letztens in der Version von "Rudolf Rocker & die Schocker" im Auto gezeigt. Es geht basikalisch darum, dass Noahs Arche zu klein für die Dinosaurier ist, diese deshalb nicht mitdurften, demzufolge traurig waren und ausstarben. Merkwürdige Vermischung aus Christenlehre und Geschichtsverdrehung.

Aber nochmal zurück zu den Tränen in den Augen meiner Lehrerin, von der ich im Gegensatz zu den Kindergärtnerinnen nie eine gescheuert bekam: Mir fiel in den letzten Tagen auf, dass erstaunlich viele Menschen mit Tränen in den Augen durch die Straßen laufen. Ich meine damit nicht Heuschnupfentränen oder Tränen der Freude (Jebroer!) - nein, ganz klassische Tränen der Trauer oder der Wut. Die junge Frau zum Beispiel neben ihrem (vermutlich) Freund, die mir auf dem Fußweg entgegenkamen und deren Größenunterschied mir als erstes auffiel. Erst als wir uns näher kamen, sah ich ihr gerötetes Gesicht und die wässrigen Augen und die leicht feuchten Wangen. Und dachte mir: Man muss schon genau hinschauen, um zu sehen, dass die Leute weinen, geweint haben oder Trauer tragen. Denn das stille Weinen ist eine kleine Geste. Und dann fiel es mir mindestens noch 3 mal in den nächsten Tagen auf. 

Tränen der Überforderung auf dem Weg zur Arbeit, schnell weggedrückt oder durchs nach unten Schauen verborgen vor den Gesichtern der Passanten oder bei der Verabschiedung, bei einem Streit unter sogenannten Liebenden...oder ich, wenn ich mal wieder einen Song höre, der mir Nahe geht. Wobei: ich weine immer nur fast. Was mich stört, denn ich kenne doch einige Leute, die ihren Tränen freien Lauf lassen können ohne dafür viel tun zu müssen und erlebe sie danach gelöst. Letztens bei einer Doku über einen Apnoe-Taucher-Pionier, da habe ich Tränen der Rührung vergoßen, weil der mit einem jungen Fischotter sprach, ihm das Schwimmen beibrachte, ganz sachte und der Otter, erst unsicher war und sich dann sehr zu freuen schien und den Taucher küsste. So viel Fürsorge und Liebe macht mich einfach nur fertig. 

Und ich rolle durch den Wald und denke daran und spüre das Wasser, dass sich in den Augen sammelt, auch wegen Fahrtwind natürlich...und dann rolle ich durch den Tunnel und lenke mich ab mit der Frage, wo eigentlich die Spinnen sind, die an den steinigen Decken dieser Beton-Unterführungen an den Waldausgängen ihre Trichternetze gesponnen haben. Wo sind die Bewohnerinnen und Bewohner dieser wirklich sehr vielen Netze? Und dann hielt ich an und versuchte durch Sprünge mit den Netzen auf Augenhöhe zu kommen. Und tatsächlich saßen in manchen noch eine Raubspinnen oder deren Haut, die sie hier hinterließ und mich fröstelte. Ich denke, sie sind meistens unterwegs und sammeln dort nur ihre Beute. Oder es gibt sie nicht mehr, weil es zu heiß wird, die Insekten weniger werden und sie deshalb verhungert sind.

Die Vorstellung, dass ich mehrmals in der Woche an einem Spinnenspalier, das leicht über Kopfhöhe links und rechts von mir in Lauerstellung sitzt vorbei, also quasi durch einen Spinnentunnel muss, diese Vorstellung gefällt mir nicht. Und noch mehr fröstelt es mich, wenn ich zweimal im Jahr feststelle, dass die Stadtreinigung diese Netze weg macht. Ich würde das niemals schaffen und habe Respekt vor den Mitarbeitern, die das drauf haben. Und werde jetzt jedes Mal Ingo danken, der mich auf den gerechten Pfad des Rocknroll führte, anstatt ins Reinigungsgewerbe, wenn ich so schnell wie möglich durch den Spinnentunnel gleite.

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