Im Hof dröhnt ein Deltaschleifer auf Holzbrettern und macht sie glatt - immer wenn der Schleifer auf dem Material aufsetzt, löst sich ein trauriger zweistimmiger Orgelakkord auf. Wenn das Gerät gerade in der Luft gehalten wird, von welchem auch immer dort arbeitendem Menschen, summt es nur, aber mit jeder Berührung wird dieser Akkord in regelmäßigen Abständen gespannt und entspannt. Davon wachte ich auf und empfand Genuss und ein Gefühl von Klarheit. Ist Klarheit ein Gefühl? Wohl eher eine Art der Wahrnehmung. Man sieht die Dinge, wie sie sind. Ein Schleifgerät als Orgel, ein Hinterhof die Kathedrale.
Zu diesem Punkt gekommen bin ich, da ich am Abend davor "nein" zum Drink sagte - was aber auch immer Zwiespalt in mir erzeugt. Einerseits fühlt sie sich stark an, diese "Nein-Entscheidung", andererseits ist da auch der Gedanke, wie schwach einer sein muss, den Drink ablehnen zu müssen und den Genuss zu verpassen. Ich glaube, dass dies das Schwere bei Entscheidungen an sich ist. Dass man immer eine Möglichkeit hinter sich lassen muss, eben nicht beides haben kann. Dafür dann aber wenigstens die Delta-Orgel im Hinterhof. Begleitet vom hydraulischen Chor der Krangelenke des Abschleppdienstes, der gerade einen Kleinwagen auf seine Ladefläche hob. Beobachtet von den beiden Ordnungsämtlern. Der eine, erstaunlich jung und mit scharfkantiger Frisur, seine Kollegin mit grauer Föhnfrisur. In den Ausdruck ihrer Gesichter interpretiere ich, soweit von hier oben zu sehen, stets eine Mischung aus Rechtschaffenheit, Schadenfreude und eine Angst, dass doch gleich die Besitzerin oder der Besitzer des gerade im Vollzug befindlichen Fahrzeugs gelaufen kommt und sie mit Worten und einem stumpfen Gegenstand bedroht.
Etwas Zeit verging, so gerecht oder ungerecht sie immer vergeht. Das minimalistische Orgelkonzert war vorüber und vor dem Hof fiel mir ein Mann auf, vielleicht 60 Jahre alt, langes zu einem Zopf gebundenes graues Haar. Er lief die Straße auf und ab, blieb stehen, drehte sich um und blickte hin und her. Ich war inzwischen in tieferen Geschossen und kehrte einen Gastraum. Damit ich nicht permanent niesen musste, ließ ich die Tür zur Straße offen und die Staubgeister hinaus wehen. Und dann stand der Zopfmann vor mir. Schweigend sah er mich an. Dann, mit ganz leiser Stimme sagte er: "Ich habe ein Problem und brauche deine Hilfe" - ich ging kurz davon aus, dass es sich um einen Spendenbitte ging - vielleicht ein Alki, aber dafür war seine Artikulation zu klar. Er erzählte mir, dass sein Auto abgeschleppt wurde und er jetzt dringend in die Plautstraße müsste, wo er es gegen eine Gebühr wieder auslösen könnte. Es ist dringend, weil er zu einer Beerdigung muss und die Gebeine in dem Auto wären. Hier biege ich die Realität aufgrund eines Verhörers...im Auto lagen nicht die Gebeine aber die Gebinde, die Trauerkränze, die für eine Beerdigung unerlässlich waren.
Ich zeigte Verständnis und hätte ihn gerne im Subaru Libero schnell in die Plautstraße gefahren, aber soweit kann ich das Wirklichkeitsmetall auch nicht biegen und meinte: "Ich kann Ihnen (ich blieb erstmal beim Sie) ein Taxi rufen." Er schlug sich die Hand vor die Stirn und fragte sich, warum er nicht selbst darauf gekommen sei. Und meinte: "Wenn einer aus dem Wald, einmal in die Stadt kommt, passiert gleich sowas." Er kam nicht von hier. Nach mehreren Telefonaten mit den ansässigen Taxiunternehmen stellte sich aber heraus, dass im Moment kein Fahrzeug verfügbar war. Helene Fischer ist in der Stadt. Er bat noch um ein Glas Wasser und stand schweigend im Raum. Sichtlich ratlos.
Letztlich gab ich ihm mein Fahrrad und die Adresse des Abschleppdienstes mit der Bitte das Rad einfach im Laufe des Tages wieder herzubringen. Etwas ungläubig schaute er erst mich und dann die Karte auf seinem Telefon an, fuhr dann aber doch im einsetzenden Nieselregen Richtung Hafen und Abschleppdienst. Er kam nur 15 Minuten zu spät mit den Gebeinen zur Feier in der Hofkathedrale.Das Deltaschleifermusikstück lief schon und er betrat mit feuchter Kleidung den Altar und legte die Kränze nieder. Hinter ihm sah man in einem der Häuser eine kleine dunkle Gestalt aus einem Dachfenster blicken, die über die Entscheidung nachdachte, einen Drink abgelehnt zu haben, während sich ein zweistimmiger Orgelakkord spannte und auflöste.
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