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Malaiseia/Poor People Song

Schon wieder gesoffen, diesmal mit Aussetzern in den Erinnerungen. Am Ende spürte ich Freiheit durch wortlosen indianischen Singsang, angeregt durch einen letzten Gast im Saftschubetablissement. 

Aber von vorn: Frisch gewaschen war ich gerade dabei. ca. 8:48Uhr in ein karges dunkles Brot mit Käse zu beißen, als ich einen Anruf bekam: Es galt einen Menschen aus einem Laden zu kriegen. Und ich wurde um Hilfe gebeten. Und Hilfe verwehre ich nicht. So stand ich also mit dem Style Gott und nur Sandalen an den Füßen vor "unserem" Schaufenster auf der Straße. Ich habe immer kalte Füße, deshalb war mir egal, dass es kalt war. Dem Menschen im Laden offensichtlich nicht. Denn er hatte nicht viel an sich, die Vermutung liegt nahe, dass er obdachlos war und deshalb die Schließzeit auf dem Klo verbracht hat, um so die Nacht in einem Haus verbringen zu können. 

Insofern, füge ich der Aussage, dass ich der Kälte gleichgültig gegenüber stehe hinzu, dass ich dies naiv behaupten kann, weil ich weiß, dass ich geheizte Räume habe, in denen ich meine Füße unter eine Decke stecken kann. Der Mensch im Laden hatte sowas nicht - und so stand er auf der inneren Seite des Schaufensters und durchwühlte eine Kiste mit Tabak, einer Apfelsine und anderen Gegenständen. Er trug einen Pullover - sein Unterkörper war nackt, nur seine Unterschenkel mit Stützstrümpfen überzogen und an einem Fuß trug er einen blauen Sneaker. 

Wir betraten den Laden, er reagierte ruhig auf uns. Auf Englisch gaben wir ihm zu verstehen, dass er den Ort zu verlassen habe. Wir brachten ihm seine Unterkörperbekeidung, die in der oberen Etage lag, sowie Tabak und mehrere H&M Karten - Gutscheine oder Visitenkarten, so genau habe ich mir das nicht angeschaut. Er zog sich dann sehr langsam seine Unterhose sowie Strümpfe und Hosen an und mit sehr langsam meine ich, so langsam, dass ich ungeduldig wurde (mehr als 10 Minuten), denn ich hatte einen Termin, der näher rückte. Style Gott wähnte sich in einem Theaterstück, denn immer wenn wir glaubten, jetzt käme endlich das nächste Kleidungsstück an die Reihe, zog er sich die Hose wieder herunter, um sie noch einmal, besser gerafft nach oben zu ziehen. Irgendwann war dann der zweite Schuh dran. Ich hatte bereits mehrmals "hurry up" gesagt, was er mit ruhigem Gemurmel erwiderte, von dem ich nur "stupid brats" verstand. Ich trat dann einen Schritt auf ihn zu, bestärkte ruhig sprechend meine Forderung, dass er jetzt endlich raus müsse und er begann zu schreien. Sinngemäß gab er mir brüllend zu verstehen, dass er geht, wenn er sich fertig angezogen habe, und dass er das nicht draußen auf der Straße tuen würde. 

In mir: Anspannung. Gefolgt von der absurden Aussage, dass das hier "our house" sei, was ja kompletter Quatsch ist. Erstens: Warum spreche ich von "uns" und zweitens: Wir sind doch alle nur Mietmaden. Er stand dann auf, packte seinen Tabak und seine Karten in einen gelbe Mütze und verließ den Laden, Flüche ausstoßend. Ich sagte ihm, er solle warten, denn ich könnte ihm noch eine Jacke geben, er schrie nur: "I have a jacket" und tippte dabei auf seinen Hoodie mit Reißverschluß, bevor er plötzlich in normalem Ton hinzufügte: "Yeah, give me a jacket.". Ich stieg in die zweite Etage, sammelte Pullover und eine Jacke aus einer Kiste zusammen und brachte sie nach unten - doch der Mensch war weg. Style Gott meinte, er stieg bestimmt in die Straßenbahn. Ich dachte: War das alles wirklich passiert oder nur eine weitere karmische Lehrstunde, so wie der Lampenbruch der letzten Woche? 

Und so kam im Laufe des Tages die Scham für meine nicht vorhandene Empathie über mich. Denn: Es war kalt draußen, der Mensch hätte sich in Ruhe anziehen können. Er hatte nichts gestohlen oder zerstört und anstatt ihn nach seinem Namen zu fragen, ihm einen Tee anzubieten, ging es mir nur darum, ihn schnellstmöglich loszuwerden. Okay, meine Frage ob er Hilfe brauche, verneinte er und fing an zu schreien. Das war auch alles würdelos. Ich glaube, ich hatte Angst, da eine mögliche eigene Zukunft meiner Selbst zu sehen. Wer möchte das schon? Deshalb: Husch husch - raus mit dir kleine Zukunftsvision. 

Den ganzen Tag dachte ich noch über mein unchristliches Verhalten gegenüber diesem Menschen nach, wie schnell es geht, das eine Person entmenschlicht und nur als störendes Element gesehen wird, weil sie sich in einem Raum aufhält, auf den sie keinen Anspruch hat und die Person, die sich in Verantwortung sieht noch andere Dinge erledigen muss. 

Später schubste ich wie erwähnt Säfte, fühlte mich wohl, trank den einen oder anderen mit und sang am Ende plötzlich wortlose Gesänge mit dem letzten Gast. Wir tasteten uns von Dissonanz in Harmonie, hielten inne und fingen wieder an. So ging das eine ganze Weile. Am nächsten Morgen räumte ich auf, saugte die Splitter der letzten Nacht weg, hoffte auch den Schmerz im Kopf damit zu vernichten. Immer wieder erlebe ich mich dabei, Orte aufzuräumen, eine Ordnung zu schaffen und denke: damit sich die Gedanken frei bewegen und Chaos stiften können, brauchen sie klare Räume, aber gleichzeitig sehe ich das Ordnen auch als Ersatzhandlung dafür an, dass ich die mit Erinnerungen und negativ konnotierten Gedanken zugeschütteten Flure und Zimmer in meinem inneren Gebäude nicht beräume und stolpere. 

So entfernte ich also die grünen Glassplitter mit dem Staubsauger, die ich am Vorabend selbst erzeugte, weil mich ein Pilot als Hippie bezeichnete und ich daraufhin eine Bierflasche mit den Worten "Würde ein Hippie sowas tun?" an einer marmornen Tischkante zerschlug. Die Splitter flogen auch in die Regale, die ich in meinem Wahn mit absaugte. Dabei verschwand auch ein Ohrring, der dort lag mit einem etwas anderen leichter klirrenden Geräusch als die Scherben und Splitter. Mich störte das nicht, ich sauge auch Kupfergeld ohne mit der Wimper zu zucken ein. Einfach alles verschwinden lassen. 

Am Abend dieses Tages wartete noch eine weitere Aufgabe auf mich: 15 Schubkarren voller Holzscheite von einer Straßenseite auf die andere ins Etablissement fahren. Und so tat ich es, froh durch eine repetitive Tätigkeit meinen Gedanken über Perspektivlosigkeit und Konsum zu entkommen. Als ich nach getanem Sysyphos bei einer Zuckerklatsche (Limo) durchatmete und meinen Körper nicht mehr spürte, betrat eine junge Dame das Etablissment und fragte nach einem Ohrring, den sie letzte Woche hier verloren hatte. 

Barkraft L sagte in meine Richtung blickend, dass der vorgestern noch hier war. Ich druckste und lies verlauten, dass ich den wohl beim Staubsaugen mit eingesaugt habe. Die Fragen der Anwesenden wie das passieren konnte, ließ ich aus Schwäche und Scham unbeantwortet im Raum stehen. Die Dame ließ allerdings auch die Worte Mutter und Erbstück fallen, so dass ich, mich erneut in einer karmischen Übung wiedergefunden glaubend, den Staubsauger auf den Fußweg vor dem Laden schaffte, den Beutel herausholte, aufschnitt und den Inhalt großflächig auf dem Boden verteilte. 

Jede Menge Asche, Staub und Scherben breiteten sich auch in der Luft aus und die Erbin des Ohrrings und ich begannen uns vorsichtig mit unseren Händen durch den Nebel und Dreck zu tasten. Ich fühlte mich dabei vollkommen willenlos. Nach kurzer Zeit fand sie den Ohrring, war glücklich und ging ihrer Wege. Ich saugte den Inhalt des Staubsaugers mit dem Staubsauger wieder auf, überlegte, ob es sich für ihn so anfühlt, als ob er Erbrochenes noch einmal essen muss und verließ diesen Ort ohne Kopfschmerz in Richtung Nacht.

TV

Kommentare

  1. So so gut: ja nächstes mal Tee vielleicht beiden anbieten, dem kautzigen Straßennomaden und der Erbin… am besten gefielen mir zwei Sätze: „Am nächsten Morgen räumte ich auf, saugte die Splitter der letzten Nacht weg!“ und „Einfach alles verschwinden lassen“ weiter so 👍 ✨liebe Grüße aus Tarifa Neo

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