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Du bist ein Verb/Ich bin ein Objekt


Letztens führte die Frage nach einem Brotteller im Bistro dazu, dass die Kellnerin erst ganz konfus wurde (wieso nur?) und dann nach der Speisung allen am Tisch als Geste der Verzeihung süße und herzhafte Croissants in kleinen Papiertüten mitgab. Wahrscheinlich aus Angst vor einer realen oder internettigen schlechten Bewertung. Ein Phänomen unserer Dienstleistungsgesellschaft, dem ich höchst skeptisch gegenüber stehe, da doch es doch vorrangig dazu beiträgt, dass wir uns gegenseitig selbst regulieren, überwachen und maßregeln und in einer vermeintlich perfekten Service-Welt enden in der alle äußerlich lächeln, aber innerlich vor Reibung und Spannung brennen, wenn nicht schon emotional verkohlt sind. 

Ich wählte trotzdem ein süße Lauge, da ich Süßes sehr gerne esse, hatte dann aber doch ein herzhaftes Gebäck bekommen, was ich merkte als ich gegen 00:04 auf einer kleinen Raststätte hineinbiss. Und es war trotzdem ausgesprochen gut, vielleicht sogar das beste Croissant in der letzten Zeit. Sollte ich mich an herzhaftes gewöhnen? Wieso heißt das überhaupt herzhaft? Weil die würzige Note das Herz in Haft nimmt? Ist es nicht eher die Liebe, die das Herz gefangen nimmt? Und sind die Gefühle des Herzens nicht eher süß? 

Beim Herz denke ich auf jeden Fall an Süßes, so wie die gefüllten Lebkuchenherzen, die es jetzt wieder überall gibt. Mein erstes Lebkuchenherz aß ich am Fliesenwohnzimmertisch bei meiner Oma auf der Silberhöhe, wo ich Privatfernsehen schauen konnte und manchmal sogar das Telefon klingelte, dass schon Tasten und keine Wählscheibe hatte. Bei meinen Eltern gab's bis ich 8 Jahre alte war kein Telefon. Wir gingen wenn es nötig war zur Telefonzelle und telefonierten mit ihr. Als ich meine Oma letztens besuchte, nannte sie mich "Hamsterchen" und ich fragte mich, warum? Wahrscheinlich weil ich mir früher immer Kuchen in den Mund stopfte und dicke Backen hatte. 

Das mit dem Kuchen und Süßkram nahm in den letzten Jahren aber überhand, ich ernährte mich eine zweitweise nur von Schokolade und Keksen. Sie lieferten schnelle Energie für die denkende TV Ameise und befriedigten die Geschmacksknospen. Vor zwei Monaten entschloss ich mich in einem Gespräch mit L, dass mit dem Süßkram sein zu lassen. Beziehungsweise meinte L ich solle doch, wenn ich mich nicht so fit fühle, einfach mal süßes weg lassen. Im ersten Moment dachte ich, dass das gar nicht geht, aber beim nächsten Einkauf zog ich einfach am Süßigkeitenregal vorbei und auch beim nächsten und es funktionierte. Ich weiß, nicht nur in Keksen und Schokolade ist Zucker drin, aber wenigstens die offensichtlichen Zucker-Quellen kann ich ja umschiffen. Natürlich liegt der Griff zum Süßen in Stresssituationen sehr nahe und manchmal geschieht er auch, vor allem dann, wenn Süßes auch noch kostenlos da liegt. Aber die Menge ist doch erheblich reduziert. 

Und getreu dem Motto unserer ökonomischen Gesellschaft, sage ich frei heraus, was mir der Verzicht auf Zucker an Gewinn gebracht hat: Als erstes furchtbare Stresskopfschmerzen, welche ich auch schon mal hatte, als ich versuchsweise einen Tag auf süßes verzichten wollte. Damals dachte ich ernsthaft, dass mein Kopf explodiert und deutete es als Zeichen meines Körpers, dass Zucker die Grundlage seiner und meiner Energiegewinnung ist. Aber ich lernte, dass die Kopfschmerzen auch vom Rücken und Verspannung kommen können und nach zwei Tagen waren sie dann auch erstmal wieder weg. 

Weitere verbessernde Aspekte des Zuckerverzichts konnte ich bisher nicht feststellen, aber vielleicht sind es ja gerade die Dinge die nicht passieren, die positiv sind. Kein Herzinfarkt, keine Aufschwämmung des Leibes, keine Bauchschmerzen. Ich glaube, daraus lässt sich auch eine demütige Erkenntnis ziehen: Dass der Verzicht eben wirklich Verzicht ist und kein Tausch, ich also nichts offensichtliches im Gegenzug dafür bekomme. Deshalb ist es sicher auch so schwer, den Menschen das Fliegen zu verbieten oder das Autofahren oder das Fleisch essen, weil sie eben etwas abgeben müssen, was sie mögen, ohne etwas konkretes dafür zu bekommen. 

Denn das Argument:

"Wenn ihr weiterhin diesen Lebensstil pflegt, werden wir alle grausam zu Grunde gehen."

zieht leider nicht.

Noch nicht.

Ich versuche trotzdem wie eine kalte Brise an den Süßwaren vorbeizuziehen und spüre die Leere in mir, die jetzt da ist, wo früher Kekse waren.

TV

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