Ich hab vor einer Weile in einem Tresengespräch "NSDAP" gesagt und dafür einen heftigen Rückenklatscher von einem Märzgeborenen bekommen, so als hätte ich mich verschluckt und der Mensch wollte mich vor dem Ersticken bewahren. Klopft man Leuten noch auf den Rücken, wenn sie sich verschlucken? Das habe ich länger nicht mehr gesehen. Am schlimmsten es doch aber, wenn man sich verschluckt und kein anderer in der Nähe ist.
Ich erinnere mich an solche Momente: Entwürdigendes Würgen, kleine Stücke von Esssen, dass aus dem Mund spritzt, Tränen, Panik. Manch einer beugte sich vorn über oder stellte sich mit dem Kopf auf die raue Auslegware bei den Bekannten der Eltern, um das heimlich genaschte Ferrero Rocher (bzw. gab es mal so einen Vorläufer von diesen Amicelli-Stangen, die waren nur halb so lang und wurden eher als Edel-Schokolade vermarktet. Falls jemand den Namen kennt, nur raus damit in den Comments.) aus der Kehle zu bekommen, während die Erziehungsberechtigten im Zimmer nebenan über Politik sprechen. Erschöpft atmend, aber glücklich am Leben zu sein, noch ein bisschen auf dem Teppich liegen bleiben und dann still wieder unter die anderen Menschen schleichen, Augenkontakt vermeidend, damit keiner die Spuren der Tränen sieht. Später dann so eine wunde Stelle auf der Stirn.
Es kann sein, dass ich hier eine meiner eigenen Geschichten mit der einer Bekannten vermische - im Kopf verschwimmen die Erinnerungen und ich glaube auch, in einem bestimmten Alter vergisst man, dass man mal jung war. An dieser Stelle bitte ich um Entschuldigung für die gehäufte Verwendung des generischen Maskulinums "man". Das geschieht vor allem im mittleren Alter, also dann, wenn die Menschen glauben, zu wissen, wie das Leben läuft, weil sie schon ein paar Erfahrung gemacht haben, ein bisschen Mist gebaut und ein bisschen Erfolg gehabt haben, glauben für sich herausgefunden zu haben, wie die Maschine läuft und am Laufen gehalten werden kann.
Es ist dieser Moment, ähnlich wie nach dem Verschlucken, wo man nach dem ewigen Kampf einfach mal atmen kann, glaubt, einfach mal atmen zu können. Und aus dieser Sicherheit, die ja eigentlich eine Abwesenheit von Unsicherheit ist - beginnt der Mensch mit Unverständnis und einer gewissen Überheblichkeit auf jüngere zu schauen, die gerade in der Phase des Ausprobierens, des Verschluckens sind. Da glaubt man, es besser zu wissen, ertappt sich beim Ratschlag geben und ja, Aufregen. Obwohl man sich doch selbst vor nicht allzu langer Zeit, auf der selben Auslegware des Heranwachsens die Ellenbogen, Knie und Stirn wundgescheuert hat. Hinter der Stirn sitzt ja der persönlichkeitsbildende Hirnteil.
Kindern gegenüber entwickelt der Mensch in dieser Lebensphase eine vorher nicht dagewesene Zuneigung, wahrscheinlich, weil er glaubt, sie Formen zu können, zeugt vielleicht sogar ein oder mehrere eigene. Bis diese soweit heranwachsen, dass er erkennt, dass Formung Grenzen hat und dann inzwischen selber so alt ist, dass er wieder Kind wird.
Darüber dachte ich nach, während ich am Bahnsteig auf den Zug nach Halle wartete, wo ich meine Familie besuchen würde, um das Weihnachtsfest nachzufeiern. Aus einer ankommenden S-Bahn stiegen Menschen aus, darunter auch ein kräftiger großer Mann in Jogging-Klamotten, der mich finster aus Augenschlitzen ansah und dann ein paar Meter von mir entfernt stehen blieb. An diesem Bahnhof hatte ich auch mal Beate Zschäpe gesehen, bzw. eine Frau die aussah wie sie.
Am Bahnsteig gegenüber, es gab nur zwei stand ebenfalls ein Mann, ähnlich kräftig wie der neben mir, aber etwas jünger, mit zarter bleicher Haut, etwas ins teigige gehend. Und dieser fing plötzlich an in weichen Bewegungen zu winken und Kusshände zu werfen, denn ein Zug der ihn in die Trabantenstadt bringen würde, fuhr ein. Ich schaute nach rechts, um den Adressaten oder die Adressatin seiner Handbewegungen zu finden und bemerke, dass diese zarten Gesten dem finster blickenden Mann galten. Der winkte auch zurück, leicht verstohlen, also ohne den ganzen Arm zu heben. Nur seinen Unterarm spreizte er auf Bauchhöhe ein Stück nach vorn und ließ die Hand nach oben gewinkelt leicht hin und her wackeln. Dann stieg sein Freund ein und verschwand.
Und während die Bahn in die Hochhaussiedlung davon fuhr, kommt ihr auf dem anderen Gleis die Bahn Richtung Hauptbahnhof entgegen und ich sehe, wie beide Züge eine zärtliche Lichthupe austauschen, nur ganz kurz und gar nicht so hell. Ein sanftes Aufflammen. Zärtlichkeit am Bahnsteig.
TV
Vorläufer der Amicelli-Stangen= Fanfare
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