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Es werden Posts vom 2024 angezeigt.

#412 Atemschrei

Seit 10 Jahren kehrte er das Treppenhaus eines Buchlagers. Ein alter Plattenbau mit Stufen aus glattem Beton und definierten Winkeln und Kanten. Nicht wie die ausgetretenen Holzstufen im Nebengebäude der Tierpathologie, in der er vorher angestellt war. Den Dreck dort aus den Rissen und Fugen herauszubekommen, dauerte Stunden. Aber hier auf dem Beton fühlte es sich an wie ein Tanz, wenn er den Besen in sanften Wellen über den Boden schwang. Auf dem Weg dort hin und zurück kam er jeden Tag an einem kleinen Geschäft vorbei. Lange Zeit war es ein Imbiss, betrieben von einer Frau und einem Mann, die Filterkaffee, Cola in Dosen und zwei Sorten Flaschenbier verkauften. Dazu ganz akzeptable Pommes aus einer in die Jahre gekommen kleinen Fritteuse.  Als er sich entschloss, mit den beiden einmal mehr Worte zu wechseln, als "Eine Cola, bitte."   - "1,20" und "Stimmt so." teilte ihm die Frau mit, dass sie in zwei Wochen endgültig schließen - Rente. Beide hatten bis z...

#411 Lachwald

Die nassen Blätter der Bäume im Wald hängen tief, so tief, dass sich Silvio entscheidet, den Arm zu strecken und sie zu berühren. Eine Entscheidung bewusst treffen, sie in Signale umwandeln, die den Körper eine Handlung vollziehen lassen, geben ihm das Gefühl ein wenig Kontrolle über sein Leben zu haben. Er sieht den Menschen, die ihm entgegenkommen ins Gesicht. Er lächelt sie an. Irgendwann hat er damit aus einer Laune heraus angefangen und jetzt wird er diese Gewohnheit nicht mehr los. Früher, war er dafür bekannt, finster drein zu blicken. Wie oft sagten die Menschen zu ihm: "Lach doch mal." Aber es ist ja klar, dass "Lach doch mal" - das letzte ist, was einen dazu bringt, zu lachen, also wirklich zu lachen oder zu lächeln und nicht nur die Mundwinkel nach oben zu ziehen, bis die Zähne zu sehen sind und man aussieht wie ein perverser Clown.  Eigentlich, und daran erinnert sich Silvio immer wenn er lächelt, ist lachen nur ein evolutionäres Überbleibsel einer Verte...

#410 Bibelfliege

Steve sitzt an seinem Küchentisch. Der Tisch ist aus einem hellen Holz gefertigt, er hatte ihn gebraucht gekauft, einige dunkle Verfärbungen, dort wo schon vor ihm jahrelang Menschen ihre Arme abgelegt hatten. Erst beim Essen und später auch die Köpfe nach langen Trinknächten. Da sind auch Kerben, wo rohes Fleisch und Zwiebeln direkt auf dem Holz geschnitten wurden. Vielleicht sogar, so denkt er sich, hat auf diesem Tisch mal jemand Buchstaben aus einer Zeitung für einen Erpresserbrief mit dem Teppichmesser ausgeschnitten und dabei kleine Kerben hinterlassen.  Er fährt mit seiner Hand über den Tisch. Hinter ihm fällt flaches Sonnenlicht durch das Fenster. Die Blätter der beiden Bäume auf dem Hof verlieren langsam ihr Grün, aber der Wind ist noch nicht stark genug, sie von den Ästen zu reißen. Neben dem Tisch hängt ein Schrank, der zu der ebenfalls gebrauchten Einbauküche gehört, die Steve einer Frau abgekauft hat, die aus ihrer Stadtwohnung aufs Land zog. "Aus gesundheitlichen Gr...

#409 Zero Tone Inn/Druckerschwarz

Da steht einer an der Kasse vom Gemüsemarkt und verdreht sich ganz komisch. In der linken Hand hält er einen Stoffbeutel, in den er gerade ein Bund Petersilie, verschiedene Pilze und Lauchzwiebeln gepackt hat. In der rechten Hand hat er zwei Geldscheine, die er nun versucht in die linke Hosentasche zu schieben. Dabei drückt er den Rücken nach vorn durch und bewegt sein Becken nach links, macht seinen Körper zum kompliziertesten Abschnitt einer Formel-1 Rennstrecke. Die Scheine, schon ganz geknittert, weil hastig entgegen genommen, landen ganz knapp im unteren Ende der Hosentasche, schauen noch ein Stück heraus. Er löst sich aus der Verrenkung, sein Rücken wird von einer Haarnadelkurve mit Bodenwellen wieder zu der holprigen Landstraße zwischen Leipzig und Halle und er verlässt das Geschäft.  Er trottet die Straße herunter, die Straße ist breit, die Sonne scheint aus einem kargen Blau auf ihn herab. Durch die Gläser der Sonnenbrille, die auf seinem Nasenrücken ruht, sieht er alles e...

#408 Verschwommene Kontore/Verdammnis

Durch das Fenster fällt Licht. Es ist das Licht aller Laternen der Stadt, dass sich an der Wolkendecke reflektiert. Es ist ein schwaches, leicht oranges glimmendes Licht, dass man auch sehen kann, wenn man sich Nachts über eine der Zubringerstraßen dieser Stadt nähert. Es hängt wie eine Glocke über den Häusern. Und in einem dieser Häuser liege ich unter dem Dach auf meinem Bett und starre den Schrank an, der an der Stirnseite meines Zimmer steht. Ich wende den Blick nicht ab und sehe, dass sich eine der Türen ganz langsam öffnet. An der oberen Kante zeichnet sich ein Schatten ab, schwarz, ungefähr so groß wie eine Hand und ohne dass ich Augen oder einen Mund erkennen kann, weiß ich, dass dies der Kopf sein muss, von diesem Etwas, dass mich beobachtet. Denn ja, ich fühle mich beobachtet, betrachtet. Das Wesen verharrt genauso wie ich für eine knappe Minute bevor es sich wieder ganz langsam hinter die Schranktür zurück zieht und diese dann auch schließt. Ich blinzele und stehe auf. Ich w...

#407 Gewässert/Verbessert

Ich trage eine Monstera aus meinem Büro in das kleine Bad am Ende des Ganges. Ihre Blätter waren ganz trocken, nach dem sie für lange Zeit sehr üppig wuchs. Wenn ich sehe, dass Pflanzen durchhängen, stelle ich sie unter die Dusche. Und stelle mir vor, dass es sich für sie ein bisschen anfühlt, wie der Regen im Dschungel, wo sie eigentlich leben. So als ob ein Waldführer mit ein paar Stadtkindern, die nie das Leben in der Wildnis kennengelernt haben für einen halben Tag im Wald verbringt. Während ich den Topf trage, fällt mir auf, dass ich diesen schon durch mindestens 4 Behausungen mitgeschleppt habe. Er ist aus Ton, ziemlich bauchig und über die Jahre hat er eine bröckelige Kalkhülle bekommen. Beim Transport fällt davon einiges ab und hinterlässt Spuren auf meiner Kleidung. Ich erinnere mich, dass in diesem Topf jahrelang eine Wolfsmilch wohnte. So ein Gewächs, dass mit Stacheln bewehrt, wie eine Kakteenart aussieht, aber keine ist. Diese Wolfsmilch gehörte dem Künstler R. dessen Dach...

#406 Quibeldey/Schuldkulthits

Ich konnte dem Konzept Mittagsschlaf im Kindesalter nichts abgewinnen. Schon im Kindergarten empfand ich diese eine Stunde erzwungene Stille als sinnlos. Sie begann damit, dass wir unsere hölzernen Pritschen, die als Lattenrost- bzw. Matratzenersatz mit grob gewobenen im rechten Winkel zueinander verlaufende Stoffbändern versehen waren, in dem Raum aufstellten, in dem wir sonst spielten oder versucht wurde uns irgendetwas beizubringen. Dieser Raum war in meinem Fall eine sehr großzügig geschnittenes Wohnzimmer im dritten Stock eines großbürgerlichen Hauses. Entweder in der DDR enteignet und für die Erziehung neuer sozialistischer Bürger umfunktioniert oder noch früher in Besitz genommen, nach dem die Besitzer aus einem den Nachbarn unerfindlichen Grund über Nacht das Land verlassen mussten. Wir stellten unsere Liegen dort auf, manchmal wurden die Rollläden herunter gelassen, manchmal blieben sie einfach oben. Jeder hatte sein eigenes Kissen von zu Hause mitbekommen, ein minimales Zuges...

#405 Tradition/Aggression

Ich trage Holzfenster mit Iso-Glas aus einem LKW in einen Garten. Die Fenster sind gebraucht, die Rahmen sind an den Unterseiten gesplittert. Es sieht aus, als wären sie in Eile herausgebrochen. Mitnehmen, was man greifen kann.  Mit Brecheisen, deren roter Lack zu großen Teilen abgeblättert ist. Dort wo jahrelang Hände griffen, hat Schweiß das Material samtig glatt werden lassen. Und wer so ein Werkzeug benutzt, wird den metallischen Geruch noch lang an seinen Händen tragen. Wo die Fenster herkommen, ist mir nicht bekannt. Aus einem der Vororte vielleicht.  Der Garten befindet sich in einem Randgebiet und grenzt an eine Brachfläche von denen es hier immer weniger gibt. Inzwischen sind die meisten mit Neubauten bepflanzt getrieben von der Idee schmuckloser klarer Formen als bauliches Abbild eines effizienten geradlinigen Lebens. Diese Idee wandelt sich im Alltag recht schnell in Beklemmung. Das Auge kann sich nur an scharf geschnittenen Flächen und Winkeln orientieren und jede ...

#404 Schmuck/Am untersten Garten

Auf dem Weg nach unten durch das Treppenhaus finde ich Schmuck auf einer Stufe. Einen Ohrring. Gebogen aus Draht, wie ein Haken, was mich auch immer an ein Fragezeichen ohne Punkt erinnert und mich überlegen lässt, warum Menschen sich Fragezeichen ohne Punkt verkehrt herum durch die Haut und das Fleisch ihres Ohrläppchens stecken. Sie machen das, weil sie sich dagegen entschieden haben, nach allem zu fragen. Stattdessen nehmen sie sich einfach, was sie wollen. Ich hebe den Ohrring auf, halte ihn zwischen meinen Fingern und reibe an dem Material herum. Auf den Haken sind Perlen aus Plastik aufgefädelt, Eine Türkise und eine Bernsteinfarbene.  Jetzt erinnere mich, dass ich erst vor kurzem eine kleine Tüte mit genau solchem Schmuck vor der Tür einer Räumlichkeit, durch die ich oft gehe, liegen sah. Und ich dachte damals schon, dass ich mit dieser Tüte nichts zu tun haben möchte, dachte daran, dass Gegenstände einen Fluch in sich tragen können und dass jemand mit Zauberwissen, was imme...

#403 Atmende/DVD-Menüs

Ich drehe mich auf den Rücken und reibe in entgegensetzten Kreisbewegungen mit meinen Handballen ganz fest meine Augen. Dieser Druck bringt mir Enstpannung, schon seit Kindertagen. Die Tage sind aufgefädelt an einer Schnur, wie Perlen aus Nussbaum, jede wie die andere und mit der Zeit werden sie dunkler, weil sich Dreck in den Poren des Holzes verfängt. Die Stücke der groben Filzschnur, die zwischen den Perlen hervorschaut, das sind die Nächte in denen ich zwischen drei und vier Uhr wach liege, jede ein bisschen anders, aber bestimmt von meinem Atem, der, wie mir einige Menschen sagten, so flach sei, dass sie manchmal nicht wüssten, ob ich überhaupt Sauerstoff aufnehme oder noch am Leben sei. Ich beobachte diesen Atem, mein Brustkorb hebt sich, dann senkt er sich und die aus meiner Nase strömende Luft erzeugt hohe Töne, wie ganz kleine Geigen oder weit entferntes Klagegeschrei. Und manchmal, wenn ich diese Töne im Halbschlaf höre, bin ich nicht sicher, ob sie aus mir heraus entstehen o...

#402 Das/Surren

Das ist es, was mich zu Tränen rührt: Das Unschuldige der Konsumenten, die sich aus einer Laune heraus, genau für einen bestimmten Farbton ihrer Kleidung entscheiden. Der Mann da, er hat ganz bunte Schuhe. Warum? Ich stelle mir vor, wie er in einem Geschäft steht, allein, und sich sagt: "Ich mach das jetzt. Warum nicht mal bunt?"  Und damit wird der Schuh zur Ersatzhandlung für die ein oder zwei Male, wo er "Nein" gesagt hat, als es darum ging, zum See zu fahren, weil er einfach keine Lust und auch ein bisschen Angst vor den Menschen an sich hatte und stattdessen im Arbeitszimmer blieb und die Tabellen mit der Abrechnung von 2022 als Grund vorschob.  Als seine Frau und die beiden Kinder die Tür hinter sich schlossen, setzte er sich an den Schreibtisch, schloss die Augen und ließ sich in die Stille sinken. In diese Stille schob sich ein hohes Surren. Es schien vom Fenster zu kommen. Der Wind konnte es nicht sein, denn das Fenster hatte er vorhin geschlossen, weil er...

# 401 Hundebier/Katzenwein/Sommer 24

Ich bin einfach losgefahren - ein bisschen ziellos, die Schwerkraft wieder recht aktiv zur Zeit. Zwischendurch habe ich überlegt, alles sein zu lassen, aber es soll nicht um mich gehen, zumindest nicht auf diese Weise.  Ich finde kurzen Frieden, leider nur persönlichen und nicht weltumspannenden, im Schatten unter einem Baum. Ich sitze dort mit einem Milchshake und einer Apfeltasche, welche für mich der Inbegriff von Fastfood sind, weil sie das erste waren, was ich vor vielen Jahren in einem Mekkes vertilgte. Der Hirnfrost setzt auch erwartbar ein, zieht sich über die Kiefermuskeln seitlich hoch. Ich wärme mit dem Inhalt des frittierten Gebäcks kauend dagegen und höre Nachrichten. Ich höre so viele Nachrichten und die Inhalte machen mich fertig und beruhigen mich gleichzeitig, was mich dann wieder mit Scham erfüllt. Und zwischen diesen Widersprüchen lebe ich. Zufrieden für mich, während die News des Schreckens (Welt) und Idiotie (Germany) aus dem Radio schallen.  Dann rolle ...

#400 Vermeintlich/Einschlich

Ich rolle die Straße hinunter, Reste einer Nacht in meinen Blutbahnen lassen meine Bewegung auf vier Rädern so unwirklich erscheinen, dass ich glaube zu träumen. Erfüllt von leichter Panik kneife ich in meinen Unterarm, so wie ich es als Kind phasenweise tat, als ich mir auch damals und ohne Restnacht im Organismus, phasenweise nicht sicher war, ob ich in der Wirklichkeit bin. Es ist eine verschobene Wahrnehmung. Es ist die Erkenntnis, dass sich das, was um mich herum geschieht, meiner Kontrolle entzieht, was die Unruhe auslöst. Ich rolle die Straße entlang, da laufen Menschen links und rechts und Ampeln schalten von grün auf gelb und rot und wieder anders herum und die Menschen verlassen sich darauf, dass sich alle an diese Farben halten. Solche Grundregeln, an die man sich hält, ohne weiter darüber nachzudenken, werden mir plötzlich bewusst und fordern mich. Wenn die Automatismen unterbrochen werden, wird das Ausmaß des Wahnsinns im Zusammenleben für einen kurzen Moment deutlich. Abe...

#399 Grabmesser/Schlechtesser

Ich finde ein Tagpfauenauge in einem fensterlosen Bad, nachdem ich mit einer rituellen Dusche versucht habe den Restalkohol aus meinem Körper zu spülen. Immer das gleiche. Ich suchte in diesem Bad in der Vergangenheit auch schon Schutz, gerade weil es keine Fenster hat und die vollkommene Dunkelheit mir dabei half, mich selbst aufzulösen in diesem mich umschließenden Nichts. Noch etwas weiter zurück, zog ich mal nach einem gut gelaufenen Konzert an einem Jibit in einem Mercedes-Wohnmobil, wo dann tatsächlich South Of Heaven aus dem Kassettendeck lief. Da war ich irgendwie glücklich, wurde aber doch zügig gebeten zu gehen, lief dann durch einen beginnenden grauen Tag durch den Regen in Halle, spürte die Wirkung der "Droge" und verkroch mich in einen Keller, bevor ich, zurück in der mir zugewiesenen Unterkunft, die lichtlose Besenkammer aufsuchte.  Daran erinnere ich mich gerade, der Körper noch nass und der Raum von leichtem Dampf erfüllt. Ich selbst mehr oder weniger ein Nich...

#398 Weine in dein Bier/So geht es dir nie aus

Ich gehe an einem Hochhaus vorbei, dass ganz nah an einem breiten Fluss steht. Ich schaue nach oben und zähle 14 Stockwerke, 14 Balkons bis ganz oben. Der unterste ist zugewuchert mit Rankpflanzen und ich frage mich, wer sich dazu entscheidet in einem Hochhaus ganz unten zu wohnen. Wahrscheinlich ist es wie immer der Preis, der einen Menschen dazu bewegt. Die Vorstellung in einer Wohnung zu hausen, über der dreizehn weitere Etagen samt Möbiliar und Menschen schweben, nur gesichert durch in Beton gelassene Stahlträger, ruft in mir Unruhe hervor. Ich habe mal in einer vierzehnten Etage gewohnt. Da empfand ich aber auch Unruhe durch das Bewusstsein, dass ich praktisch 30 Meter über dem Erdboden in der Luft auf dem Klo sitze oder über den Linoleumfussboden schleiche, damit die Nachbarn sich nicht aufregen.  Ich entschließe mich, nach rechts weiter Richtung Fluß zu gehen, er ist ungefähr 300 Meter breit und wird auch für Binnneschifffahrt genutzt, da fahren Lastenkähne voll mit Abraum. ...

#397 Quarkspeise/Parfum am Pullover

Es ist so warm, dass ich die ganze Nacht ohne Decke oder genauer auf meiner Decke liege. Mein Körper strömt die Wärme aus und ich träume erstaunlich wenig. Als ich gegen 5Uhr vom krachenden Gesang einer Krähe und der rasselnden Antwort einer Elster, die fast klingt, wie eine Klapperschlange, erwache spüre ich langsam etwas Abkühlung - bleibe aber trotzdem auf der Decke liegen. Ich schlafe nochmals ein und als ich wieder zu mir komme, liege ich plötzlich doch unter der Decke. Sollte ich mich selbst zugedeckt haben, habe ich davon nichts mitbekommen. Leichte Beunruhigung und ein Überwachungskameravideo entsteht in meinem Kopf: Ich auf der Decke, ruhig atmend mit geschlossenen Augen, dann fange ich ganz langsam an zu schweben, werde ungefähr einen Meter in die Luft gehoben und verweile dort für fünf Minuten ohne etwas davon mitzubekommen. Dann wird die Bettdecke zum Fußende gezogen, ich sinke ebenso langsam wieder zurück auf die Matratze und die Decke erhebt sich immer noch auf Höhe des F...

#396 Waschanlage für Waschmaschinen/Waschbärbarbaren

Mir wurde mal gesagt, es lohnt sich nicht, auf den vermeintlich richtigen Moment zu warten, Dinge zu tun oder sie sich aufzusparen für einen Zeitpunkt an dem es sich wirklich lohnt...zum Beispiel ein Eis essen. Deshalb gehe ich aus der Tür und hole mir eine Kugel Oreo-Eis und laufe die Straße runter. Es regnet und ich stelle fest, dass ich vorher noch nie ein Eis im Regen gegessen habe. Nach dem Eis kommt dann der Durst und ich gehe die selbe Straße auf der anderen Seite zurück.  Ich betrete meine Räumlichkeiten und lasse mir aus dem Wasserhahn etwas Wasser in ein Glas und bevor ich es trinke, wundere ich mich mal wieder über die Selbstverständlichkeit mit der das trinkbare Wasser aus der Leitung kommt. Und während ich das Glas an den Lippen habe und das Wasser schlucke, frage ich mich, wie lang das noch so gehen wird und die Zivilisationsangst überkommt mich. Es kann auch eine Angst aus Langeweile sein. Denn ich habe ja eben ein Eis essen können, einfach so. Ich habe Münzen in der...

#395 20 Euro in den Toaster/Walfleisch in der Schulspeisung

Sich vorzustellen ein Waschbär zu sein, ist recht verlockend: Den ganzen Tag in der Baumkrone einer Eiche abhängen, der Ast auf dem man döst, schaukelt leicht im Wind, in der Dämmerung dann langsam nach unten Klettern und in der Kleingartensiedlung gegenüber, einen kompletten Kirschbaum leer fressen. Mit etwas Glück sind sogar ein paar Maden in den Früchten und der Proteinbedarf ist auch mit abgedeckt. Dann vollgefressen wieder runter und erstmal wieder ein Nickerchen. Entscheidend ist doch aber, ob man dieses wunderbare Leben als Waschbär überhaupt realisiert. Eigentlich geht das nur, wenn der Mensch, der ein Waschbär sein will, mit seiner vollständigen Fähigkeit zu denken in den Waschbär hineinversetzt wird. Denn als Waschbär allein, ist einem nicht klar, dass man Waschbär ist und was man für ein herrliches Waschbärleben hat. Das geht nur mit der menschlichen Vorstellungskraft und Fantasie, die in die Lage versetzt, sich alternative Existenzmöglichkeiten zu erdenken. Und das klingt s...

#394 Oh-Ha/Alt wie ein Grönlandhai

Die Pflanze muss gegossen werden. Ich schäme mich, wenn ich es vergesse. Und es geht mir nicht mehr aus dem Kopf, wenn ich die Wohnung verlasse. Deshalb entstand dieses Gedicht: Fürsorge Die Stufen der Fürsorge, also Geweckt aus dem Verlangen Verantwortung zu übernehmen Sind die folgenden: Blume, Pflanze, Hamster, Katze, Reptilie, Hund und Kind. Aus dem Verlangen heraus Etwas gelingen zu sehen In den Laden hinein Und eine Pflanze gekauft Dann wieder Zuhaus Ihr beim Wachsen zuschauen Man Kümmert sich um sie - Im Gegensatz zum Kind oder Tier Nicht so kompliziert Und auch nicht ganz so schlimm Wenn es nicht funktioniert Schreit nicht Kratzt nicht, bellt nicht Kann nur Mit Wachstum Oder welken Blättern Die Heftigkeit der Pflege kommentieren Die ihr zugute kommt Grüne Freundin,  Was würdest du sagen Wenn du sprechen könntest? Welchen Gemütszustand hättest du - als ein Wesen, Dass sich den Ort  An dem es lebt nicht ausgesucht hat Oder ihn verlassen kann? Alles was du tust, tust du: ...

#393 Allergologischer/Sinkflugtarif

Ich entdecke die beruhigende Wirkung von Bäumen im Wind. Ich kann mich glücklich schätzen, an einem Fenster sitzen zu können und ohne der Forderung nach einem tieferen Sinn auf die Blätter der Bäume schauen zu können. Sie wiegen an den schwingenden Ästen ganz leicht hin und her, wackeln, winken und in diesen ganz konkreten Bewegungen ohne Bedeutung verblassen meine selbstauferlegten Listen mit Aufgaben und ich drifte in ein Starren, nur unterbrochen durch das Blinzeln damit die Augen feucht bleiben. Die Bäume. Die Bäume, sie nehmen den Wind einfach hin, genauso wie die Hitze und alle anderen Witterungserscheinungen. Obwohl sie Wesen von erstaunlicher Größe und Kraft sind, so könnte man denken, schwingt eine Hilflosigkeit in ihrer Existenz mit. Sie können sich den Platz an dem sie leben nicht aussuchen, vor allem, wenn die Bedingungen ungünstiger werden, können sie nicht gehen. Und sie nehmen es hin, wirken bei genauerer Betrachtung eben gar nicht so hilflos, sondern erfüllt von einem G...

#392 Sakrament/Sargäquivalent

Auf dem Fußweg liegt eine Ratte, halb bedeckt durch ein weiß gebleichtes Taschentuch, dass ihr Leichentuch geworden ist. Ein Passant muss es mit spitzen Fingern und Vorsicht gebietenem Abstand über sie geworfen haben. Sie liegt auf dem Rücken, die Glieder von sich gestreckt, das Maul halboffen und unterhalb der Kehle treten Eingeweide aus ihrem Körper, an denen sich bereits die ersten Fliegen sammeln. Als ich das zweite Mal an ihr vorbeikomme, ist das Leichentuch bereits einige Meter weggeweht und der Tod zeigt sich in seiner ganzen Profanität, liegt einfach da, ist mehr als die Abwesenheit des Lebens. Leben, dass aus einem Körper gewichen ist und damit diesen Körper zu einer Masse macht, die ihren eigentlichen Zweck nicht mehr erfüllt: Als Gefäß des Lebens, dass es diesem erst ermöglicht wahrgenommen zu werden. Und wenn dann dieses Leben beendet ist, bei der Ratte war es der Angriff eines Fuchses oder eine Kollision mit meinem Fahrrad, verliert der Körper seinen Sinn, wird zur Masse, ...

#391 Bayou-Genese/Kanu-Wesen

Man reicht mir eine Dia-Brille in Form einer Mickey-Maus. Ich schaue hindurch. Das erste Bild zeigt in erstaunlicher Plastizität einen Hasen, der eigentlich ein Affe war auf einer Wiese. Auf dem nächsten Bild ist ein Junge zu sehen, vor ihm die Collie-Hündin  "Lassie"  auf deren Rücken ein Rabe sitzt. Der Rabe passt nicht ganz in das friedliche Bild der Tier-Mensch-Freundschaft. Ein Bote des Bösen. Aber ich kenne die Serie nicht und so drücke ich den Knopf, der das nächste Bild erscheinen lässt.  Ein Wildwest-Sujet: Blauer erbarmungsloser Himmel und drei Soldaten der berittenen Kavallerie im inneren eines Forts, erkenntlich an den hohen Holzpfählen, die dicht an dich in den Boden gerammt, Schutz vor Gefahren von außen geben sollen. Vor den Soldaten, gefesselt drei Native Americans. Und neben den Natives ein Schäferhund, ein deutscher, genauer gesagt, ein Belgischer Schäferhund, der aber im Allgemeinen mit Deutschland assoziiert wird. Das liegt ganz einfach daran, dass wir...

#390 Immer weniger/In das Meer

Ich zähle Gegenstände und höre ein dumpfes Klirren und Scheppern. Ich zucke zusammen, denke sofort an Geister, die mir Zeichen geben. Ganz konkret an den Geist von Wolfgang Herrndorf. Denn wenn der Wind und die Zugluft durch die Räume wehen, in denen ich mich gerade befinde, glaube ich, dass es der Geist des Herrndorf ist. Ich habe das mal so fest gelegt, als ich gerade eins seiner Bücher las. Ich gehe sofort, sehr vorsichtig durch die Räumlichkeiten und sehe, dass ein Kühlschrankgitter voller Bierflaschen auf einer Seite abgerutscht ist. Die Flaschen drängen sich von innen an die Glastür. Ich öffne sie ganz vorsichtig und lasse einig der Flaschen auf Decken fallen, die ich vor der Tür auf dem Boden gelegt habe. Es funktioniert. Und ich beruhige mich wieder. Die Geisterfurcht begegnete mir in den letzten Wochen häufiger und eben nicht nur in der Nacht im Halbschlaf, als Gefühl, dass etwas im Raum ist, dass ich nicht sehe, aber dessen Präsenz ich spüre. Nein, auch tagsüber fallen Dinge ...

Schließzeiten/Öffnungswesen

Es sind müde Tage bei gleichzeitiger innerer Anspannung. Deshalb bin ich nach dem Aufwachen sehr vorsichtig beim Blinzeln und Augenlider schließen. Denn ich fürchte, wenn ich die Augen zu lange geschlossen halte, im Gehen oder unter der Dusche einzuschlafen. Teilweise glaube ich auch, gar nicht wach zu sein und denke, dass es nicht die Realität ist, in der ich mich bewege. Alles ist weich und wie in den Träumen von anderer Bedeutung oder ein Stück weiter weg von mir. Wenn meine Wahrnehmung ein Greiforgan wäre, würde es sich anfühlen, als fasse ich in Teig obwohl es der Lenker meines Fahrrads ist. Und ich spüre die zunehmende Geschwindigkeit beim Bergabfahren und denke nicht ans Bremsen, wundere mich eher darüber, wie es funktioniert, dass ich hier rolle und nicht nach links oder rechts kippe. Dann halte ich an und nehme einen kleinen Stock mit dem ich in der Erde herumstochere - um zu überprüfen, ob sie real ist. Erleichterung, denn sie ist immer noch knochentrocken und nicht teigig un...

Wieder ins Wanken/Weiter waten

Wenn man es einmal gesehen hat, fällt es einem überall auf: Menschen, die sich voneinander verabschieden und in Fahrzeuge einsteigen. Sie stehen noch kurz beieinander, Gesten der Umarmung oder geschüttelte Hände. Die, die den Ort verlassen, steigen ins Auto, aufs Fahrrad, Schiff oder in den Zug und entfernen sich, hupen noch einmal oder heben die Hand zur Geste des Winkens. Und auch die bleibende Person winkt. Das Winken - ein Zeichen, eine Markierung, ein "ich bin hier" . Die Hand wird zu einer Fahne, ist schon immer der Ersatz für die, die sich keine echte Fahne leisten konnten. Und so bewegen sich der Arm als Stange und die Hand als flatternder Stoff hin und her, als flatterte sie im Wind. So lange, bis die Erdkrümmung oder die nächste Straßenecke dafür, dass man sich gegenseitig nicht mehr sieht.  Bis zu diesem Zeitpunkt zeigt man an sichtbar zu sein, beweist dem anderen seine Existenz in der seinen und versichert sich auch selbst, dass man "ist" und zueinander...

Orter-Torte/Retro

P. schickt mir eine Nachricht per Diktierfunktion, die Sprache wirkt lustig entstellt. Genau wie bei den lustigen Applikationen, in denen man sein Gesicht verändern lassen kann, macht diese Diktierfunktion doch nur deutlich, das unsere Telefone in "beide" Richtungen genutzt werden. Was soll das heißen? Die ganzen Gesichtsverwandlungs-Späße helfen nicht nur den Benutzern dabei, etwas Zeit totzuschlagen oder "Spaß" zu haben - sie helfen genau so, die Datenbanken der Gesichtserkennung zu füllen und die Software zur Gesichtsmanipulation zu verbessern. Und bald schon kann man ein Verbrechen begangen haben, von dem man gar nicht wusste - in dem ein Video als Beweismittel angeführt wird, in dem ein Körper zu sehen ist, der einen anderen totschlägt und auf diesem Körper ist der eigene Kopf. Täter überführt, den Machthabern unliebsame Person eingebuchtet.  Und die Diktierfunktion: Macht sie nicht deutlich, dass das Telefon unsere Sprache analysieren kann? Und vor allem, dass...