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#391 Bayou-Genese/Kanu-Wesen


Man reicht mir eine Dia-Brille in Form einer Mickey-Maus. Ich schaue hindurch. Das erste Bild zeigt in erstaunlicher Plastizität einen Hasen, der eigentlich ein Affe war auf einer Wiese. Auf dem nächsten Bild ist ein Junge zu sehen, vor ihm die Collie-Hündin "Lassie" auf deren Rücken ein Rabe sitzt. Der Rabe passt nicht ganz in das friedliche Bild der Tier-Mensch-Freundschaft. Ein Bote des Bösen. Aber ich kenne die Serie nicht und so drücke ich den Knopf, der das nächste Bild erscheinen lässt. 

Ein Wildwest-Sujet: Blauer erbarmungsloser Himmel und drei Soldaten der berittenen Kavallerie im inneren eines Forts, erkenntlich an den hohen Holzpfählen, die dicht an dich in den Boden gerammt, Schutz vor Gefahren von außen geben sollen. Vor den Soldaten, gefesselt drei Native Americans. Und neben den Natives ein Schäferhund, ein deutscher, genauer gesagt, ein Belgischer Schäferhund, der aber im Allgemeinen mit Deutschland assoziiert wird. Das liegt ganz einfach daran, dass wir alle die Bilder kennen: Die Bilder von den Aufsehern in den Lagern bekleidet mit sauberen Uniformen und blanken Stiefeln, neben sich angeleint die Hunde und vor sich entmenschlichte Gefangene, Deportierte...und daran denke ich auch dank des Hundes sofort beim Betrachten des Wild-West-Bildes. Es ist die selbe Anordnung der Machtverhältnisse, herausgeputzte Soldaten, wehrlose Natives und ein Schäferhund. 

Ich lege die Brille zur Seite und höre der Besprechung von vier Männern zu, gebe einen Kommentar ab, lasse meinen Blick aber an den Mauern, die die Gruppe und mich umgeben, entlang gleiten. Alte Backsteine, von Pflanzen überwuchert und dank eines Regens, hier und da eine Pfütze und die Steine sind tief-rot und grau. In einer Tonne sind altes Geäst und Rinde aufgehäuft und ganz oben auf liegt ein solches Stück Rinde mit zwei Löchern darin. Ich hebe es an und bemerke, dass es die Form einer Rennaissance-Ball-Maske hat. Ich halte sie vor mein Gesicht und schaue die sich immer noch beratenden Männer durch die Astlöcher in der Maske an. Ich sehe sie kurz als Lageraufseher, dann als Textilarbeiterinnen, die in ihrer Pause, filterlose Zigaretten rauchend vor der Tür ihres Fabrikabschnitts stehen. Ihre Funktionsjacken verwandeln sich in geblümte Schürzen, ihre Jeanshosen verschwinden ganz und geben bleiche, von blauen Flecken übersäte Beine preis. Im schwülen Wetter bilden sich Schweißperlen in ihren Nacken, die auch bleiben, als ich die Maske wieder senke. 

Die vier reden weiter und mein Blick bleibt an einer Feuerschutztür hängen. Eine riesige Ameisenstraße führt vom Boden aus an ihr entlang und immer weiter hinauf an dem vierstöckigen alten Gebäude. Da ich nichts weiter zum Gespräch beizutragen habe, verabschiede ich mich, verlasse mit tanzenden Schritten die Runde und schließe mich den Ameisen an, laufe mit ihnen bis aufs Dach und warte auf die Sonne, die jeden Moment durch die Wolkendecke brechen wird.

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