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#410 Bibelfliege


Steve sitzt an seinem Küchentisch. Der Tisch ist aus einem hellen Holz gefertigt, er hatte ihn gebraucht gekauft, einige dunkle Verfärbungen, dort wo schon vor ihm jahrelang Menschen ihre Arme abgelegt hatten. Erst beim Essen und später auch die Köpfe nach langen Trinknächten. Da sind auch Kerben, wo rohes Fleisch und Zwiebeln direkt auf dem Holz geschnitten wurden. Vielleicht sogar, so denkt er sich, hat auf diesem Tisch mal jemand Buchstaben aus einer Zeitung für einen Erpresserbrief mit dem Teppichmesser ausgeschnitten und dabei kleine Kerben hinterlassen. 

Er fährt mit seiner Hand über den Tisch. Hinter ihm fällt flaches Sonnenlicht durch das Fenster. Die Blätter der beiden Bäume auf dem Hof verlieren langsam ihr Grün, aber der Wind ist noch nicht stark genug, sie von den Ästen zu reißen. Neben dem Tisch hängt ein Schrank, der zu der ebenfalls gebrauchten Einbauküche gehört, die Steve einer Frau abgekauft hat, die aus ihrer Stadtwohnung aufs Land zog. "Aus gesundheitlichen Gründen", sagte sie, als sie die Geldübergabe machten, nachdem alle Teile der Küche unten auf der Straße standen und ihre Wohnung fast leer war. Dann seufzte sie und Steve legte ihr, aus einem ihm unbekannten Impuls heraus den Arm auf die Schulter. 

Daran erinnert sich, während er auf den Schrank starrt. Auf der Unterseite ist eine Lampe befestigt, die durch einen Sensor an- und ausgeschalten werden kann. Man macht einfach eine streichende Geste durch die Luft unterhalb der Lampe und sie geht an oder aus. Steve hatte die Lampe vorhin mit so einer Geste angeschaltet und jetzt fällt ihm wieder ein, warum er sich hingesetzt hat. Zerstreut greift er in seine Hosentasche und holt eine Miniaturbibel hervor. Auschnitte aus dem ersten Buch Mose und dem Lukas-Evangelium sind darin in einer Schriftgröße abgedruckt, die eher für Hamster oder Geckos gedacht sein muss, als für Menschen. 

Aber mit dem Licht geht es und er beginnt zu lesen: Schöpfungsgeschichte, Gott erschafft das Licht, die Tiere und dann den Menschen und als die Menschen in ihrem Menschsein immer menschlicher wurden, entschließt Gott sich, sein Werk mit einer Flut wieder zu Nichte zu machen. Das klingt nach einem unzufriedenen Wissenschaftler, denkt Steve, oder einem Kind, dass seine Sandburg wieder einreißt, weil das schöpferische Moment langweilig wird, sobald etwas fertig gestellt ist. Sei's drum - er liest ein paar Sätze laut, seine trockene Stimme bricht sich mehrmals an den kahlen Wänden und klingt ganz verschwommen. Da geht unvermittelt das Licht aus, er stoppt mitten im Satz und klappt die Bibel zu. Gedanken an Gotteszeichen entstehen sofort in seinem Kopf. Strafe, Pein, Gotteslästerei.

Aber als er seinen Blick zur Lampe richtet, bemerkt er eine Fliege, die dort entlang krabbelt. Er führt noch einmal die Geste zum Anschalten des Lichts aus, die er jetzt gleichzeitig zum Verscheuchen des Insekts nutzt. Dann setzt er sich wieder an den Tisch und murmelt weiter Textstellen vor sich hin...und wieder geht das Licht aus.  Es muss die Fliege sein, die in ihrem Drang ins Licht zu gehen, immer wieder über den Sensor der Lampe läuft. Er sieht, wie sie vom einen Ende zum anderen rennt, inne hält, die Richtung wechselt und dann beim Sensor stehen bleibt. Jetzt geht die Lampe wieder an und die Fliege rennt weiter, erneut bis zum anderen Ende, wieder zurück und über den Sensor, das Licht geht aus. Steve überlegt ob die Fliege von Gott geschickt ist oder vom Teufel, denn immerhin hält sie ihn vom Lesen der Bibel ab. Er liest dieses Buch ja aus einer Haltung der Skepsis, erhofft sich mehr einen Thrill aus den brutalen Szenen, als einen tieferen Sinn für sein Leben. Also spricht einiges dafür, dass Gott die  Fliege geschickt hat und ihn durch sie ermahnt, die heilige Schrift ernst zu nehmen. Andererseits könnte der Teufel in seiner grenzenlosen Weisheit und Voraussicht jetzt schon sehen, dass Steve sich zukünftig vom Glauben erfüllt seinem rotglühenden Griff entzieht. Und Gott, der ja auch Weise ist, lässt es geschehen. 

Die Fliege zieht jetzt in den einer Fliege eigenen zackigen Bahnen durch den Raum Richtung Fenster, knallt mehrmals gegen die Scheibe, selbst als Steve das Fenster aufmacht. Mit den Händen deutet er sanfte Wellenbewegungen an, um die Fliege in den Spalt zwischen Wand und Fenster durch, ins Freie zu lotsen. Aber sie zieht sich in die Küche zurück, bleibt noch einmal, Sklavin ihres vom Licht gesteuerten Orientierungsorgans, an der Lampe hängen und fliegt von da wieder mit voller Wucht gegen die Scheibe. Steve kann es nicht mehr mit ansehen. Er nimmt eine Tasse aus dem Schrank und schafft es, die Fliege darin zu fangen. Dann greift er nach einer alten Militär-Postkarte, die auf einem Stapel auf dem Tisch liegt und schiebt sie vorsichtig unter die Tasse. Dann hebt er die Apparatur an, achtet dabei darauf, dass das Papier den Tassenrand fest und dicht umschließt und hält sie aus dem Fenster in den inzwischen angegrauten Abendhimmel, hebt die Postkarte, schüttelt noch einmal. Doch die Fliege ist nicht zu sehen.

Vorsichtig schaut er ins Innere der Tasse: Nichts. Aber dort am Rand, da sitzt sie, verharrt bewegungslos. Steve starrt sie an und wünscht sich, dass sie jeden Moment einen Psalm aufsagen oder einen Fluch in seine Richtung sprechen wird, ihn abstraft für sein dahingleitendes planloses Dasein zwischen gebrauchten Möbeln und unmotiviert und gotteslästerlich dahin gemurmelten Bibelversen. Er fokussiert den kleinen Körper des Tieres, bereit, die ihm zustehende Strafe zu empfangen und stellt fest, dass der Hinterleib abgequetscht ist. Die Beine und der Kopf und Teile der Flügel werden von Organresten und Blut am Rand der Tasse gehalten. Der Kopf des Insekts zuckt noch leicht hin und her. Steve lässt den Arm mit der Tasse in der Hand nach unten sinken und streift das tote Tier am metallenen Fensterbrett ab und stellt die Tasse zurück in den Schrank. Setzt sich im Dunkeln zurück an den Tisch und streicht langsam über die Furchen im Holz.

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