Auf dem Fußweg liegt eine Ratte, halb bedeckt durch ein weiß gebleichtes Taschentuch, dass ihr Leichentuch geworden ist. Ein Passant muss es mit spitzen Fingern und Vorsicht gebietenem Abstand über sie geworfen haben. Sie liegt auf dem Rücken, die Glieder von sich gestreckt, das Maul halboffen und unterhalb der Kehle treten Eingeweide aus ihrem Körper, an denen sich bereits die ersten Fliegen sammeln. Als ich das zweite Mal an ihr vorbeikomme, ist das Leichentuch bereits einige Meter weggeweht und der Tod zeigt sich in seiner ganzen Profanität, liegt einfach da, ist mehr als die Abwesenheit des Lebens. Leben, dass aus einem Körper gewichen ist und damit diesen Körper zu einer Masse macht, die ihren eigentlichen Zweck nicht mehr erfüllt: Als Gefäß des Lebens, dass es diesem erst ermöglicht wahrgenommen zu werden. Und wenn dann dieses Leben beendet ist, bei der Ratte war es der Angriff eines Fuchses oder eine Kollision mit meinem Fahrrad, verliert der Körper seinen Sinn, wird zur Masse, die anderem Leben dann als Energiequelle oder Brutstätte neuen Lebens dient. Was eben noch eine Existenz hatte, wird von anderen Existenzen gefressen.
Wer aber hat ein Taschenleichentuch über die Ratte gelegt und wieso? Es macht die Ratte so menschlich, erinnert mich an die vielen Leichensäcke, die so häufig in den Nachrichten zu sehen sind, an die Leichensäcke, die wahnhafte Umstürzler zusammen mit Löschkalk bestellt haben, um mißliebige Personen in für sie ausgehobenen Löchern verschwinden zu lassen möglichst spur und geruchlos. Es ist das Bedürfnis den Tod in jeglicher Form zu verdrängen, dass den Mensch zum Leichentuch greifen lässt. Auch, wenn das Leichentuch nur ein Taschentuch ist, dass auf den Rattenkörper gelegt wird. Denn jedes tote Tier, erinnert an das Ticken der eigenen Uhr, die ja bekanntermaßen rückwärts auf einen, den meisten von uns nicht bekannten Zeitpunkt zuläuft.
Nein, diese Uhr tickt nicht rückwärts, sie läuft einfach und irgendwann bleibt sie stehen. Man weiß nur nicht, wann sie stehen bleibt. Deshalb gehen wir weiter und decken tote Tiere ab oder nehmen die Schaufel und lassen sie in Mülltonnen verschwinden. Aber der Wind weht das Tuch weg oder kippt die Tonne um und der Tod lacht mich aus halbverschlossenen Rattenaugen zwischen einem halbgegessenen Burger und zerknülltem Geschenkpapier an, verhöhnt mich mit seiner bloßen, blanken Anwesenheit, als der Teil der Welt, den wir nicht sehen wollen. Aber er ist da, jeden Tag, jede Minute und Millisekunde, in jedem Land, auf jedem Fußweg, all das unter der gnadenlosen Macht einer irgendwann auch erkaltenden Sonne. Ob sie auch Angst vor dem Tod hat?
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