Die nassen Blätter der Bäume im Wald hängen tief, so tief, dass sich Silvio entscheidet, den Arm zu strecken und sie zu berühren. Eine Entscheidung bewusst treffen, sie in Signale umwandeln, die den Körper eine Handlung vollziehen lassen, geben ihm das Gefühl ein wenig Kontrolle über sein Leben zu haben. Er sieht den Menschen, die ihm entgegenkommen ins Gesicht. Er lächelt sie an. Irgendwann hat er damit aus einer Laune heraus angefangen und jetzt wird er diese Gewohnheit nicht mehr los. Früher, war er dafür bekannt, finster drein zu blicken. Wie oft sagten die Menschen zu ihm: "Lach doch mal." Aber es ist ja klar, dass "Lach doch mal" - das letzte ist, was einen dazu bringt, zu lachen, also wirklich zu lachen oder zu lächeln und nicht nur die Mundwinkel nach oben zu ziehen, bis die Zähne zu sehen sind und man aussieht wie ein perverser Clown.
Eigentlich, und daran erinnert sich Silvio immer wenn er lächelt, ist lachen nur ein evolutionäres Überbleibsel einer Verteidigungshaltung. Affen lachen nicht, weil sie sich freuen, sie zeigen ihre Zähne, als Drohung und auch Delfine nutzen die Geste, die wir als Lachen interpretieren, mindestens um Stress abzubauen. Das hatte ihm damals Anfang der 2000er ein Künstlerfreund erklärt unter dem orangenen Licht einer Straßenlaterne, dann küssten sie sich. Sie küssten sich öfter mal auf dem Weg von einer Party zur anderen - ohne dass daraus irgendetwas erwuchs. Es war eine freundschaftliche Geste, ein Vertrauensbeweis und vielleicht auch der Wunsch über ein geteiltes Geheimnis eine tiefere Verbindung zueinander zu haben.
Silvio berührt jetzt also das grüne Blatt eines Ahornbaumes und lächelt eine ihm entgegenkommende Frau und ihren Hund an. Sie, in ihrer Regenjacke, blau mit ein paar neonorangenen Streifen, die im Dunkeln sicher reflektieren, reagiert nicht darauf, schaut einfach nur ernst gerade aus. Der Hund ist damit beschäftigt, die Verbindung zu Fährten nicht zu verlieren, was bei Regen nicht einfach ist. Deshalb mögen Hunde keinen Regen. "Es ist in Ordnung", denkt Silvio, "Man ist nicht verpflichtet Geschenke anzunehmen und erst recht nicht, sollte man Dankbarkeit für etwas verlangen, das man von sich aus gibt." Er beobachtet diese für ihn christliche, selbstlose Haltung schon länger mit Skepsis war. Er kann nicht glauben, dass selbst der frommste Christ ohne Selbstzweck anderen hilft. Denn am Ende, auch wenn Selbstlosigkeit ohne Vorteile im Diesseits praktiziert wird, schwingt doch die Hoffnung mit, beim Eintritt in die andere Welt mindestens ein Lob vom Schöpfer zu bekommen und dann einen Fensterplätze im Ekranoplan ins Jenseits.
Er schüttelt den Gedanken mit den Regentropfen an seinen Fingerspitzen ab. Ein Mann auf einem Fahrrad kommt ihm entgegen, blickt finster drein, weil er so wenig Platz auf dem Weg hat. "Warum?" fragt sich Silvio, "Soll er sich doch freuen hier durch den Wald fahren zu können." Und ganz langsam spürt er eine Wut in sich entstehen, aus seinem Nacken, sinkt sie nach vorn unter die Lunge und nistet sich im Zwerchfell ein. Was hat dazu geführt, dass er den Menschen so wohl gesonnen ist? Haben sie sein Lächeln verdient und ist es denn dieses Lächeln überhaupt besser, als der finstere Blick, den er auf eine natürlichen Art und Weise seit er denken kann, mit sich rum getragen hat?
Silvio kaut ein bisschen auf der Innenseite seiner Wange herum und beschleunigt seinen Gang - es ist kurz vor sieben und er biegt nicht nach links in Richtung des kleinen Lagerhauses seiner Firma für Straßenbeschilderung und Baustellenabsperrungen, in dem er praktisch auch wohnt ab, sondern nach rechts, die Straße ein Stück den Hügel runter und in Richtung der einzigen Bar im Viertel. Er ist schon lange nicht mehr dort gewesen, aber durch die Nächte und Tage im Delirium, finden seine Beine den Weg von selbst.
Früher bevor ihm ein Bekannter den Job vermittelt hat, spielte sich sein Leben zwischen dieser Bar und einem Verschlag unterm Dach eines verfallenen Hauses ab, in dem er im Gegenzug für marginale Hausmeistertätigkeiten leben durfte. Im stabilen sich immer wiederholenden Rhythmus des Alkohols glitt er durch die Zeit: Montagmittag war der körperliche Teil des Katers vorbei und er widmete sich, nachdem er einen großen Topf Kartoffelsuppe zubereitet hatte, bis zum frühen Abend des Mittwochs nichts anderem als dem Studium philosophischer Texte von Nietzsche bis Derrida und jeder Menge Geschichtsbücher. Er fühlte sich wohl damit auf seinem Bett zu liegen, tiefes Wissen und einfache Suppe in in sich aufzunehmen. Denn er hatte ein sehr genaue Verwendung dafür. Die Suppe half seinem Körper, die Strapazen des Alkohols der letzten Woche zu verarbeiten und sich auf die kommenden vorzubereiten. Er stellte sich immer vor, dass die Suppe seine ständig entzündete Speiseröhre und Magenschleimhaut, wie eine schützende Teerschicht auskleidet. Das Wissen diente ihm von Mittwoch. bis Samstagabend dazu Menschen, denen er zufällig in der Bar begegnete mit Argumenten platt zu machen.
Er liebte es, die angetrunkenen oder auch schon sich weit darüber hinaus befindlichen Gestalten aus der Reserve zu locken, bis sie anfingen zu schreien, weil ihnen die sachlichen Argumente ausgingen. Da ging es natürlich oft um Politik, Naher Osten, Ostdeutschland, was auch immer. Am Anfang wurden Fakten ausgetauscht, aber Silvio wies, dank seines angelesenen Oberwassers sofort darauf hin, wenn die Fakten des Gegenübers falsch waren oder fragte nach den Quellen, welche es meist gar nicht gab. Und wenn dem Gegenüber die Quellen versiegten, Silvio ihm das argumentative Wasser abgrub, wurden sie alle früher oder später emotional, sprachen von einem Gefühl, dass sie zu ihrer Überzeugung brachte oder vom gesunden Menschenverstand, der dann immer herangezogen wurde von wer weiß, woher.
Und Silvio bohrte nach, bis die Personen ausfällig worden und er fühlte sich bestätigt in seiner Erkenntnis, dass unter der zivilisierten Schicht der meisten ein roher dummer Kern haust, der eine niemals versiegende Quelle für alle Arten von Demagogen von Nero bis Hitler und allen die noch kommen, ist. Wenn den nichts ahnenden Trinkgenossen die Argumente ausgingen, fingen sie an zu schreien, als ob die falschen Argumente durch lauteres Wiederholen richtiger werden würden. Manche ließen auch auch alle Masken fallen und drohten Silvio Prügel an oder schmissen brennende Kerzen in seine Richtung. Darüber lachte er nur, während das Wachs zu einem weiteren Fleck auf seinem Mantel trocknete. Armes irrationales Menschenpack.
Die Abende endeten mindestens zweimal in der Woche damit, dass Silvio im Morgengrau kotzend vor der Bäckerei zwei Häuser weiter auf dem Bordstein saß. Über dem Abfluss in die Kanalisation gebeugt, hielt der den Kopf zwischen seinen Beinen und ließ die Mischung aus angedauter Kartoffelsuppe, Gin und noch schäumendem Bier aus sich herausfließen. Manchmal lächelte er die Verkäuferin an, die um diese Uhrzeit zur Arbeit ging. Hatte die Angewohnheit dort begonnen? Im Angesicht eines Menschen, der pflichtbewusst seiner Arbeit nachgeht und anderen ein warmes nährendes Brot verkauft, konnte Silvio nicht anders, als zu lächeln. Es war das wissende Lächeln eines Trinkers im Morgenlicht, am Tiefpunkt der Parabel, die er jede Woche durchwanderte.
Dann taumelte er zurück in seine Behausung, lag mit an den Knien hängender, vollgepisster Hose vor seiner Wohnungstür, ohne zu wissen wie er dort hin gelangt sei und eigentlich auch ohne zu wissen, wo und wer er ist. Oft bildete er sich dann ein, es stünden Menschen um ihn herum, die ihm helfen wollten oder ihn auslachten, obwohl doch in dem Haus niemand außer ihm wohnte. Und er drehte sich auf dem ausgetretenen staubigen Holzflur zur Wand und starrte auf die poröse Fläche vor sich. So ging das von Mittwochabend bis Sonntagmorgen. Dann nüchterte er aus, wusch seine Sachen im Waschbecken, die Woche war rum und eine neue konnte beginnen. Es fühlte sich richtig an. Bis es nicht mehr ging und tatsächlich jemand neben ihm im Hausflur stand. Und so kam das mit dem Job und der Rhythmus wurde ein anderer.
Zurück ins Jetzt. Seine Schritte haben ihn bis zur Tür dieser Bar geführt, ohne dass er es mitbekommen hat. Die rechte Hand liegt schon auf der metallenen Klinke, das gelbliche Licht von Innen, scheint auf seinen schwarzen Mantel und erinnert ihn nochmal an die Küsse unter der Laterne. Er drückt die Klinke und betritt die Bar. Hinterm Tresen steht ein Typ, den er nicht kennt, der ihn also auch nicht kennt. Aus einem freundlichen unverbrauchten Gesicht lächelt er ihn an. "Verdammt.", sagt Silvio leise.
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