Ich trage eine Monstera aus meinem Büro in das kleine Bad am Ende des Ganges. Ihre Blätter waren ganz trocken, nach dem sie für lange Zeit sehr üppig wuchs. Wenn ich sehe, dass Pflanzen durchhängen, stelle ich sie unter die Dusche. Und stelle mir vor, dass es sich für sie ein bisschen anfühlt, wie der Regen im Dschungel, wo sie eigentlich leben. So als ob ein Waldführer mit ein paar Stadtkindern, die nie das Leben in der Wildnis kennengelernt haben für einen halben Tag im Wald verbringt. Während ich den Topf trage, fällt mir auf, dass ich diesen schon durch mindestens 4 Behausungen mitgeschleppt habe. Er ist aus Ton, ziemlich bauchig und über die Jahre hat er eine bröckelige Kalkhülle bekommen. Beim Transport fällt davon einiges ab und hinterlässt Spuren auf meiner Kleidung. Ich erinnere mich, dass in diesem Topf jahrelang eine Wolfsmilch wohnte. So ein Gewächs, dass mit Stacheln bewehrt, wie eine Kakteenart aussieht, aber keine ist. Diese Wolfsmilch gehörte dem Künstler R. dessen Dachwohnung ich einst übernommen hatte. In einer etwas Abseits gelegenen Gegend von Halle, auf einem Berg auf der anderen Seite des Flusses.
Manchmal träume ich noch von den Spaziergängen, die ich in dieser Zeit unternahm, von den leer stehenden Wohnblöcken aus den 30er Jahren, in denen nur in zwei Wohnungen noch schwaches Licht glimmte. Einmal bin ich an einem der Häuser vorbei gegangen, in dem festen Glauben, dass dort niemand mehr lebte und erschreckte mich, als sich die graue Gardine im Fenster im Erdgeschoss bewegte und eine schmale, sehr alte Frau nach draußen schaute. Das Innere der Wohnung wurde nur von einer stoffbespannten Stehlampe in orangenes Licht getaucht. Ich erkannte einen dunklen Holzschrank, einen Tisch und eine Kerze, kein Radio, kein Fernseher. Die alte Frau, ihre Falten wirkten durch das Licht noch intensiver, sah mich aus tiefen Augenhöhlen starr an. Ich hielt sie für einen Geist, sie regte sich nicht. Wenn ich mich jetzt daran zurück erinnere, wird mir klar, dass es zu dieser Zeit schon das Internet gab, moderne Geräte, Smartphones, aber gleichzeitig eben auch sehr alte Menschen, die noch so lebten, wie vor 80 Jahren.
Auf meinen Spaziergängen dort auf der anderen Seite des Flusses, brauchte ich auch nicht lange, bis ich draußen auf den Feldern war. Ich lief einfach eine der asphaltierten Straßen bis zum Ende, dann wurde daraus ein Feldweg, ein Pfad und irgendwann stand ich auf einer freien Fläche voll mit kniehohen trockenen Gräsern. Ich stand dort spürte den Wind und schaute umher, sah in der Ferne eine einzeln stehende schiefe Bretterhütte und fragte mich, wer hier wohl so einsam hauste. Ich scheute mich näher heranzutreten, denn das aggressive Bellen von abgerichteten Hunden wehte herüber.
Was mir aus dieser Zeit blieb, ist lange die Wolfsmilch gewesen, die wuchs und wuchs und mich irgendwann überragte. Der Topf war eigentlich längst zu klein und einmal stieß ich aus Versehen gegen ihn, was die gesamte Pflanze erst ins Wanken brachte und dann dazu führte, dass sie kippte. Und ich, ich hielt sie fest, so wie man einen Menschen, der taumelt festhält. Erst während dessen wurde mir klar, dass die Wolfsmilch mit kleinen Stacheln bewehrt ist und sich diese in meine Arme und Hände bohrten. Ich bewegte sie vorsichtig in die senkrechte Position zurück und löste mich langsam aus der stechenden Umarmung. Daran erinnere mich, jetzt wo ich die Monstera wässere und wundere mich, wie lange man manche Gegenstände von Wohnort zu Wohnort mitziehen und man es gar nicht bemerkt, wie gut sie einen kennen müssen. Die Wolfsmilch hat den Vorletzten Umzug nicht mehr geschafft, sie brach auseinander. Ich schaffte es nicht, sie noch einmal zu Umarmen.
Ich bin auch kein Freund von Umarmungen. Ich lasse sie geschehen, aber starte sie selten aus eigener Initiative. Vor kurzem aber kam es zu einer sehr spontanen Abschiedsumarmung mit einer Person, mit der ich das eigentlich nie mache. Und ich trat ihr dabei auf den Fuß, sagt leise "sorry" als sich unsere Gesichter näher kamen und stellte mir kurz vor, wie es wäre, wenn sie stacheln hätte, die sich in meine Arme bohren
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