Das ist es, was mich zu Tränen rührt: Das Unschuldige der Konsumenten, die sich aus einer Laune heraus, genau für einen bestimmten Farbton ihrer Kleidung entscheiden. Der Mann da, er hat ganz bunte Schuhe. Warum? Ich stelle mir vor, wie er in einem Geschäft steht, allein, und sich sagt: "Ich mach das jetzt. Warum nicht mal bunt?" Und damit wird der Schuh zur Ersatzhandlung für die ein oder zwei Male, wo er "Nein" gesagt hat, als es darum ging, zum See zu fahren, weil er einfach keine Lust und auch ein bisschen Angst vor den Menschen an sich hatte und stattdessen im Arbeitszimmer blieb und die Tabellen mit der Abrechnung von 2022 als Grund vorschob.
Als seine Frau und die beiden Kinder die Tür hinter sich schlossen, setzte er sich an den Schreibtisch, schloss die Augen und ließ sich in die Stille sinken. In diese Stille schob sich ein hohes Surren. Es schien vom Fenster zu kommen. Der Wind konnte es nicht sein, denn das Fenster hatte er vorhin geschlossen, weil er keine Lust darauf hatte, den Nachbarn beim Maßregeln ihrer Kinder zuzuhören. Er trat näher an das Fenster heran und schaute nach oben. Dort sah er den Hinterleib einer Fliege zwischen zwei Lamellen des Alurollos hervorschauen. Sie schien dort eingeklemmt zu sein seit seine Frau am Morgen die Rollos mit dem eigentümlichen zischenden kalten Klackern, dass die aufeinander schlagenden Lamellen erzeugen, nach oben gezogen hat.
In kurzen Abständen versuchte sich das Tier mit schnellen Flügelschlägen zu befreien - und er erkannte darin den Ursprung des Surrens. Es es klang fast so, als würde jemand auf einem Kamm blasen. Für einen Moment hörte er zu. Dann griff er nach der Schnur mit deren Hilfe man das Rollo raffen oder fallen lassen kann. Die Sonne war ihm sowieso zu hell und warum sollten die Nachbarn sehen, dass er bei diesem schönen Wetter hier drin hockt? Als er begann zu ziehen wurde das Surren höher, die Fliege versuchte sich, getrieben von einem stumpfen Lebensdrang noch energischer aus ihrer Lage zu befreien. Die Mechanik, die das Rollo lockerte, klickte, aber er ließ es nicht herunter. Er variierte nur minimal die Zugkraft und hielt es so in der Schwebe. Er stellte fest, dass sich dadurch die Tonhöhe des Surrens verändern ließ, denn der Druck der Lamellen auf die Flügel der Fliege variierte.
Und wie auf einem Kamm fing er an eine kleine Melodie zu spielen. Es waren vielleicht zwei oder drei Töne, die sich nur ein wenig in ihrer Höhe unterschieden, eine kleine klagende Tonfolge. Als er probierte, einen besonders tiefen Ton zu erzeugen, hätte es die Fliege fast zwischen den Lamellen herausgeschafft, aber er erhöhte den Druck erneut, in dem er ganz langsam immer fester an der Schnur zog. Das Surren wurde höher, klang jetzt wie ein zarter vibrierender Geigenton bevor es erstarb. Dann noch zwei abgehackte Töne, die er durch kurzes Ziehen und Lockerlassen erzeugte. Um seinen Mund zeichnete sich ein sanftes zufriedenes Lächeln ab. Er lauschte in die Stille und öffnete die Augen wieder.
Für einen kurzen Moment hatte er Probleme seine Umwelt zu fokussieren, doch dann erkannte er vor sich das Fenster und dahinter auf dem Rasen die Umrisse eines kleinen Menschen. Eins der Nachbarskinder stand dort und sah ihn mit schrägem Kopf und zusammengekniffenen Augen an, wie er hinter dem Fenster stand: Bekleidet mit einem grauen Shirt mit einem Marmeladenfleck und ein paar Krümeln der Aufbackbrötchen von heute morgen und einer schwarzen Unterhose. Er hielt den Strick noch in der Hand. Wie lange hatte das Kind schon dort gestanden? Sein Lächeln wich einem kurzen raubtierartigen Zähnefletschen, dann lies er die Schnur los, dass Rollo rasselte nach unten und verdunkelte den Raum. Staub wirbelte durch das Zimmer und die tote Fliege fiel auf die Stelle des Teppichs, wo ein schmales Stück Sonnenlicht durch die Lamellen ins Dunkel drang.
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