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#404 Schmuck/Am untersten Garten


Auf dem Weg nach unten durch das Treppenhaus finde ich Schmuck auf einer Stufe. Einen Ohrring. Gebogen aus Draht, wie ein Haken, was mich auch immer an ein Fragezeichen ohne Punkt erinnert und mich überlegen lässt, warum Menschen sich Fragezeichen ohne Punkt verkehrt herum durch die Haut und das Fleisch ihres Ohrläppchens stecken. Sie machen das, weil sie sich dagegen entschieden haben, nach allem zu fragen. Stattdessen nehmen sie sich einfach, was sie wollen. Ich hebe den Ohrring auf, halte ihn zwischen meinen Fingern und reibe an dem Material herum. Auf den Haken sind Perlen aus Plastik aufgefädelt, Eine Türkise und eine Bernsteinfarbene. 

Jetzt erinnere mich, dass ich erst vor kurzem eine kleine Tüte mit genau solchem Schmuck vor der Tür einer Räumlichkeit, durch die ich oft gehe, liegen sah. Und ich dachte damals schon, dass ich mit dieser Tüte nichts zu tun haben möchte, dachte daran, dass Gegenstände einen Fluch in sich tragen können und dass jemand mit Zauberwissen, was immer kindlicher klingt, als es in Wahrheit ist, diese Tüte dort abgelegt hat. Menschen sind neugierig. Was glänzt und glitzert, finden sie interessant und fassen es an. Und wenn sie dann so einen Schmuck berühren oder gar anprobieren, an ihr Ohr stecken oder den Ring auf den Finger ziehen, setzt der Fluch ein. Das kann von kurzem Unglück reichen bis hin zur Kontrolle über den Geist durch die Person, die den Gegenstand verzaubert hat. Vor der Tür ließ ich die Tüte aus eben jener Vorsicht einfach liegen. Später lag sie dann aber doch im Regal jener Räumlichkeit. Irgendwer wird Mitleid gehabt haben, dachte sich nichts und nahm die Schmucktüte mit hinein. Die Gegenstände kriegen ihren Willen. Warum aber liegt hier in diesem dunklen Treppenhaus jetzt auch dieser Schmuck?

Ich hätte ihn nicht anfassen sollen und wer weiß, was an den ganzen gebrauchten Klamotten, die ich trage für Geschichten dran hängen, die nicht mal eben so mit einer 40 Grad Wäsche entfernt werden können. Ich lege den Ohrring vorsichtig auf die Holzstufe zurück. Durch das kleine Fenster fällt Licht. Es ist staubig hier und warm. Das Holz knirscht nicht, wenn ich darüber gehe, es poltert nur. Denn die Treppe ist, wie alle Holztreppen innen hohl. Ich poltere weiter nach unten, erinnere mich an die Geschichten von eingemauerten Kindern als Opfergaben beim Hausbau in früheren Zeiten und sehe einen zweiten gleichen Ohrring. Und ja, vielleicht hat sie jemand hier abgelegt, um einen Fluch auf mich zu legen. Vielleicht hat sie aber auch nur jemand abgelegt, der selbst durch Ohrringe verflucht wurde. In einer hastigen Bewegung zog er sie etwas zu schnell aus den Ohren und beim hinaufgehen ließ er sie einfach auf die Treppe fallen. Denn es ist doch sehr unwahrscheinlich, dass man zwei Ohrringe gleichzeitig verliert. 

Und vielleicht bin ich ja sogar selbst diese Person. Ich habe gar keine Ohrlöcher, aber ich weiß, weiter unten im Haus gibt es sterile Nadeln. Ich werde mir Löcher in die Ohren stechen, aufhören zu fragen und mir die umgekehrten Fragezeichen in diese frischen Ohrlöcher stecken. Auf dem Weg zurück nach oben begegne ich mir dann auf halber Treppe und sage: "Funktioniert doch, dein Fluch." Ein identisches trockenes Lachen folgt aus beiden Mündern. Ich werde spüren, wie ein schmaler Faden von hellem Blut an meinem linken Ohrläppchen nach unten rinnt, dann seitlich am Hals herunter und unterm Kragen des gebrauchten Pullovers verschwindet. Mein Gegenüber hat dort, wo die Ohrlöcher waren nur noch zwei winzige Punkte Wundgrind, wird mich ansehen und wissend nicken.

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