Seit 10 Jahren kehrte er das Treppenhaus eines Buchlagers. Ein alter Plattenbau mit Stufen aus glattem Beton und definierten Winkeln und Kanten. Nicht wie die ausgetretenen Holzstufen im Nebengebäude der Tierpathologie, in der er vorher angestellt war. Den Dreck dort aus den Rissen und Fugen herauszubekommen, dauerte Stunden. Aber hier auf dem Beton fühlte es sich an wie ein Tanz, wenn er den Besen in sanften Wellen über den Boden schwang. Auf dem Weg dort hin und zurück kam er jeden Tag an einem kleinen Geschäft vorbei. Lange Zeit war es ein Imbiss, betrieben von einer Frau und einem Mann, die Filterkaffee, Cola in Dosen und zwei Sorten Flaschenbier verkauften. Dazu ganz akzeptable Pommes aus einer in die Jahre gekommen kleinen Fritteuse.
Als er sich entschloss, mit den beiden einmal mehr Worte zu wechseln, als "Eine Cola, bitte." - "1,20" und "Stimmt so." teilte ihm die Frau mit, dass sie in zwei Wochen endgültig schließen - Rente. Beide hatten bis zum Ende der alten Gesellschaft im Plastewerk gearbeitet und als das abgewickelt wurde, machten sie den Imbiss auf. Vor dem Laden standen immer vier Plastestühle, die zum Inventar jedes Imbiss gehörten und deren Verfall er beobachtete. Am Anfang waren sie strahlend weiß. Zuerst färbten sich die Lehnen dort, wo die Menschen ihre fettigen Frittenhände oder Nikotinfinger ablegten leicht gelb, dann wurde das Material spröde vom Regen, den Temperaturschwankungen und er konnte so die Zeit vergehen sehen. In regelmäßigen Zyklen wurden die Stühle ersetzt und das strahlende weiß war zurück. Manchmal bekam auch einer Risse und ein Bein knickte ab, dann wurde er frühzeitig ausgetauscht und das fühlte sich wie eine Anomalie in seinem Gefüge an, wie weißes Albino-Wildschwein zwischen seinen grauen älteren Geschwistern.
Aber die Stühle verschwanden eines Morgens mitsamt der Fritteuse und dem Fett und der Pressspaneinrichtung auf der Ladefläche eines Lieferwagens und für zwei Monate waren die Fenster mit Malerfolie verhangen und dahinter wurde renoviert. Er sah agile Gestalten, die auch mal rauchend vor dem Laden standen, modisch gekleidet und lässig. Ihr lautes Lachen machte deutlich, dass sie sich noch etwas unsicher in der neuen Umgebung fühlten, aber sie schöpften Selbstbewusstsein aus der Tatsache, dass sie hier ihre Idee Wirklichkeit werden lassen konnten. Die Idee war nichts neues: Ein Bistro, sehr guter Kaffee aus einer teuren Maschine, Sandwiches aus selbst gebackenem luftigen Vollkornbrot, belegt mit gesunden Zutaten. Das hatte er im Vorbeigehen aus Gesprächen aufgeschnappt. Bald würden sie aufmachen, die Fenster von den Fettschichten der letzten 25 Jahre befreien, dass gelblich schwarze Wasser mehrmals unter erstaunten Ausrufen in den Gulli an der Bordsteinkante schütten und sich gegenseitig versichern, dass sie hier was tolles geschaffen haben.
Ihm war das egal, sollen sie doch ihre Träume verwirklichen. Was ihn störte, war, dass es keine Plastemöbel mehr gab, die sein Indikator für den Lauf der Zeit waren. Die neuen Besitzer hatten sich für Sitzmöbel aus den Siebzigerjahren entschieden. Sie waren zwar auch weiß, aber aus Metall und sehr fein gearbeitet, geschwungen und mit Ornamenten versehen. Die Sitzflächen und Lehnen waren aus geschwungenen Drähten, hier und da schon etwas Rost, eigentlich auch gar nicht schlecht. Aber etwas an den Stühlen löste Unbehagen in ihm aus. Es vergingen sechs Monate in denen er auf dem Hin- und Rückweg zur Arbeit, der ihn immer noch täglich an dem Bistro vorbei führte, grübelte und immer unruhiger wurde. Auch seine Schlafprobleme nahmen wieder zu, sodass er auf vielleicht zwei Stunden Schlaf pro Nacht kam.
Es war ein heißer September und das Bistro lief gut. Zu den Möbel wurden alte bunte Sonnenschirme gestellt und er trottete nach Feierabend daran vorbei. Zwei junge Frauen mit Kinderwägen, saßen auf den metallenen Stühlen unter dem Schirm, der sanftes buntes Licht auf sie warf. Er blieb stehen. Es war wie in seinem Traum, den er als Kind in Abständen von mehreren Jahren immer wieder hatte. Da wechselte genau dieses Bild zweier Frauen in schneller Folge mit Bildern von startenden ballistischen Raketen. In den Spitzen dieser Raketen lagen sedierte Kleinkinder, deren Hirnströme zur Steuerung genutzt wurden, weil es präziser war, als die zur damaligen Zeit verfügbare Rechentechnik. Die Intensität des Traums überforderte ihn damals vollkommen, er hatte Angst zu schlafen, in der Schule saß er nur noch unbeteiligt auf seinem Stuhl, seine Noten wurden rapide schlechter. Er verließ die Schule mit 14 und ihm wurde die Stelle als Reinigungskraft zugeteilt. Damals hieß das noch gar nicht so.
An all das erinnert er sich beim Anblick der beiden Mütter dort drüben auf den Metallstühlen. Er bleibt stehen, kratzt ein bisschen an der wunden Stelle unterhalb des Brustbeins, wo der Reißverschluss des Overalls reibt. Dann gibt er mehrere kurze kehligen Laut von sich, die entstehen, wenn man beim Einatmen sprechen will und geht auf den Tisch zu. In zwei Metern Abstand bleibt er stehen, streckt beide Arme von sich und beginnt sich zu drehen, immer schneller, dass kehlige Geräusch wird zu einem Summen und seine Füße heben sich vom Boden ab, er schwebt und steigt immer höher, jetzt ist er schon über dem Sonnenschirm, jetzt ist er an der Dachkante des Hauses und kurz darauf, war er nur noch ein immer kleiner werdender Punkt am blauen Himmel.
Die Frauen haben davon nichts mitbekommen. Niemand hat mitbekommen, wie er verschwand. Nur als im Winter die nasse Dreckschicht auf den Stufen des Buchlagers immer dicker wurde, stieß irgendwer einen kurzen Fluch beim Betreten des Treppenhauses aus - der sich wellenartig durch die fünf Geschosse nach oben ausbreitete und nach vier Sekunden verhallte.
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