Direkt zum Hauptbereich

#406 Quibeldey/Schuldkulthits

Ich konnte dem Konzept Mittagsschlaf im Kindesalter nichts abgewinnen. Schon im Kindergarten empfand ich diese eine Stunde erzwungene Stille als sinnlos. Sie begann damit, dass wir unsere hölzernen Pritschen, die als Lattenrost- bzw. Matratzenersatz mit grob gewobenen im rechten Winkel zueinander verlaufende Stoffbändern versehen waren, in dem Raum aufstellten, in dem wir sonst spielten oder versucht wurde uns irgendetwas beizubringen. Dieser Raum war in meinem Fall eine sehr großzügig geschnittenes Wohnzimmer im dritten Stock eines großbürgerlichen Hauses. Entweder in der DDR enteignet und für die Erziehung neuer sozialistischer Bürger umfunktioniert oder noch früher in Besitz genommen, nach dem die Besitzer aus einem den Nachbarn unerfindlichen Grund über Nacht das Land verlassen mussten. Wir stellten unsere Liegen dort auf, manchmal wurden die Rollläden herunter gelassen, manchmal blieben sie einfach oben. Jeder hatte sein eigenes Kissen von zu Hause mitbekommen, ein minimales Zugeständnis an Individualität. Manche hatten größere, manche kleinere. Es gab bunte, weiße, viele mit Tiermotiven, harte, weiche. Ich hatte eins, dass meinem Kopf genug Platz bot. Die Decken kamen vom Kindergarten, ehemalige Katastrophenschutzdecken für die mancher Sammler heute viel Geld geben würde. 

Dann hieß es absolute Ruhe und Augen zu. Ich kann mich nicht erinnern, einmal wirklich geschlafen zu haben. Nur an die Ermahnungen der Erzieherinnen, die mir sagten, sie sehen, dass meine Augen offen sind. Es ist nicht einfach die Augen geschlossen zu halten, wenn man gar nicht müde ist. Und so verging diese Stunde mit nichts tun, ich starrte einfach an die Decke, hörte voller Neid das regelmäßige Atmen der anderen Kinder und verfolgte die Bewegungen der Schatten, die in der Geschwindigkeit, mit der sich die Erde um die Sonne bewegt, über den Fußboden krochen. Heute hätte ich die Stunde genutzt um Tagträumen nachzuhängen, damals aber stand, bzw. lag ich der Idee, auf Befehl zu schlafen mit vollkommenen Unverständnis gegenüber. Ich wollte draußen im Garten rumlaufen oder mit den großen Holzbausteinen eine Mauer bauen. 

Irgendwann kam dann der erlösende Befehl zum Aufstehen. Einige Kinder quengelten, als seien sie noch Babies. Mich hatte das erzwungene Rumliegen ganz Mürbe gemacht, was sich in störendem Verhalten bei den Nachmittagsaktivitäten äußerte. Ich erinnere mich an zwei Ohrfeigen die ich dafür kassierte. Eine im Treppenhaus, dass buntes Glas in den Fenstern hatte und mir wie eine verwunschene Zwischenwelt erschien. Und die andere in der Garderobe, wo unsere kleinen Schuhe auf abgewetztem Parkett standen und die bunten Jacken an kleinen metallenen Haken hingen, die direkt in die dunkle Wandvertäfelung geschraubt waren. 

Meine Hoffnung, dass die Qual des Mittagsschlafs mit dem Eintritt in die Grundschule ein Ende fand, stellte sich als sinnlos heraus. Jeden Tag auch hier Mittagsschlaf, nach dem auch in der Schule nicht sehr wohlschmeckendem Mittagessen. Ich war erfüllt von Unverständnis und Neid auf andere Kinder, die es schafften sich die Speisen reinzuschaufeln, teilweise die Soßenreste von den Tellern ableckten und dafür auch noch Lob von den Aufseherinnen bekamen, während ich ängstlich meinen fast vollen Teller zerkochter Nudeln unter den strafenden Blicken der Küchenfrauen in den großen blauen Emailletopf schüttete, in dem sich die erwähnten Nudeln, mit brauner Soße und lila Quarkspeisen zu einem bunten Brei vermischten. Ich schaute oft in diesen Topf und fragte mich, wo das Essen dann hinkam. "Zu den Schweinen" bekam ich dann zu hören. Schweine, die Schweinwurst zu essen kriegen.

Dann besagter Mittagsschlaf. Diesmal allerdings nicht im Klassenzimmer, nein, von diesem aus ging es, nach einer Tasse Tee, zu der ein Schüler immer noch eine Tablette bekam, damit er ruhig blieb, hinunter in den Keller des genormten Schulverbundbaus. Hinter einer schweren Metalltür, die mit zwei Schiebehebeln geöffnet wurde, es schien sich um einen ehemaligen Schutzraum zu handeln, der jetzt, nach dem der imperialistische Feind keine Bedrohung mehr darstellte, zum Schlafbunker umfunktioniert wurde, erstreckte sich ein ca. 150 Quadratmeter großer Raum, voll mit den gleichen Klappliegen wie im Kindergarten. Der Raum hatte ein einziges vergittertes Fenster an der Wand, die gegenüber der Tür lag. Dort saßen auch die Erzieherinnen und achteten penibel darauf, dass die ca. 60 Kinder ihre Lungen mit der abgestandenen Kellerluft füllten, den Sauerstoff aus ihr heraus filterten, damit ihre kleinen Herzen, dass gesättigte Blut durch die Körper pumpen konnten. Dann stießen sie die Luft wieder heraus und erhöhten so Stück um Stück den CO2 Gehalt des Raumes. 

Ich lag auf der von den Erzieherinnen am weitesten entfernten Seite, auf der Liege direkt neben der Tür, neben mir ein alter beige lackierter staubiger Heizkörper, an dem ich herumknaupelte, wenn ich nicht auch hier in das gedämpfte Dunkel des Raumes starrte. Ich erinnere mich an genau ein einziges Mal, dass ich dort eingeschlafen bin. Aber statt einem Lob oder Erholung erwartete mich nur absolute Desorientierung, als auf einmal das Neonlicht an der Decke anging, bzw. ich geblendet von diesem erwachte und auch noch bemerkte, dass ich mir in die Hosen gemacht hatte. Denn auf die Toilette gehen durfte man während des Mittagschlafs nicht. Ich habe es irgendwie hinbekommen, dieses nahezu als Verbrechen geahndete Fehlverhalten zu vertuschen und konnte es kaum erwarten, die zweite Klasse zu erreichen, die mit dem erlösenden Versprechen wartete, keinen Mittagsschlaf mehr machen zu müssen.

TV

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

#412 Atemschrei

Seit 10 Jahren kehrte er das Treppenhaus eines Buchlagers. Ein alter Plattenbau mit Stufen aus glattem Beton und definierten Winkeln und Kanten. Nicht wie die ausgetretenen Holzstufen im Nebengebäude der Tierpathologie, in der er vorher angestellt war. Den Dreck dort aus den Rissen und Fugen herauszubekommen, dauerte Stunden. Aber hier auf dem Beton fühlte es sich an wie ein Tanz, wenn er den Besen in sanften Wellen über den Boden schwang. Auf dem Weg dort hin und zurück kam er jeden Tag an einem kleinen Geschäft vorbei. Lange Zeit war es ein Imbiss, betrieben von einer Frau und einem Mann, die Filterkaffee, Cola in Dosen und zwei Sorten Flaschenbier verkauften. Dazu ganz akzeptable Pommes aus einer in die Jahre gekommen kleinen Fritteuse.  Als er sich entschloss, mit den beiden einmal mehr Worte zu wechseln, als "Eine Cola, bitte."   - "1,20" und "Stimmt so." teilte ihm die Frau mit, dass sie in zwei Wochen endgültig schließen - Rente. Beide hatten bis z...

#411 Lachwald

Die nassen Blätter der Bäume im Wald hängen tief, so tief, dass sich Silvio entscheidet, den Arm zu strecken und sie zu berühren. Eine Entscheidung bewusst treffen, sie in Signale umwandeln, die den Körper eine Handlung vollziehen lassen, geben ihm das Gefühl ein wenig Kontrolle über sein Leben zu haben. Er sieht den Menschen, die ihm entgegenkommen ins Gesicht. Er lächelt sie an. Irgendwann hat er damit aus einer Laune heraus angefangen und jetzt wird er diese Gewohnheit nicht mehr los. Früher, war er dafür bekannt, finster drein zu blicken. Wie oft sagten die Menschen zu ihm: "Lach doch mal." Aber es ist ja klar, dass "Lach doch mal" - das letzte ist, was einen dazu bringt, zu lachen, also wirklich zu lachen oder zu lächeln und nicht nur die Mundwinkel nach oben zu ziehen, bis die Zähne zu sehen sind und man aussieht wie ein perverser Clown.  Eigentlich, und daran erinnert sich Silvio immer wenn er lächelt, ist lachen nur ein evolutionäres Überbleibsel einer Verte...

#410 Bibelfliege

Steve sitzt an seinem Küchentisch. Der Tisch ist aus einem hellen Holz gefertigt, er hatte ihn gebraucht gekauft, einige dunkle Verfärbungen, dort wo schon vor ihm jahrelang Menschen ihre Arme abgelegt hatten. Erst beim Essen und später auch die Köpfe nach langen Trinknächten. Da sind auch Kerben, wo rohes Fleisch und Zwiebeln direkt auf dem Holz geschnitten wurden. Vielleicht sogar, so denkt er sich, hat auf diesem Tisch mal jemand Buchstaben aus einer Zeitung für einen Erpresserbrief mit dem Teppichmesser ausgeschnitten und dabei kleine Kerben hinterlassen.  Er fährt mit seiner Hand über den Tisch. Hinter ihm fällt flaches Sonnenlicht durch das Fenster. Die Blätter der beiden Bäume auf dem Hof verlieren langsam ihr Grün, aber der Wind ist noch nicht stark genug, sie von den Ästen zu reißen. Neben dem Tisch hängt ein Schrank, der zu der ebenfalls gebrauchten Einbauküche gehört, die Steve einer Frau abgekauft hat, die aus ihrer Stadtwohnung aufs Land zog. "Aus gesundheitlichen Gr...