Direkt zum Hauptbereich

#400 Vermeintlich/Einschlich

Ich rolle die Straße hinunter, Reste einer Nacht in meinen Blutbahnen lassen meine Bewegung auf vier Rädern so unwirklich erscheinen, dass ich glaube zu träumen. Erfüllt von leichter Panik kneife ich in meinen Unterarm, so wie ich es als Kind phasenweise tat, als ich mir auch damals und ohne Restnacht im Organismus, phasenweise nicht sicher war, ob ich in der Wirklichkeit bin. Es ist eine verschobene Wahrnehmung. Es ist die Erkenntnis, dass sich das, was um mich herum geschieht, meiner Kontrolle entzieht, was die Unruhe auslöst. Ich rolle die Straße entlang, da laufen Menschen links und rechts und Ampeln schalten von grün auf gelb und rot und wieder anders herum und die Menschen verlassen sich darauf, dass sich alle an diese Farben halten. Solche Grundregeln, an die man sich hält, ohne weiter darüber nachzudenken, werden mir plötzlich bewusst und fordern mich. Wenn die Automatismen unterbrochen werden, wird das Ausmaß des Wahnsinns im Zusammenleben für einen kurzen Moment deutlich. Aber man schüttelt sich und versucht zurück zu gelangen, in das, was als Normalität bezeichnet wird. Ob es das war, was P meinte, als er davon sprach, dass mich das Fahren so menschlich erscheinen lässt? 

Menschlich erschien ich mir selbst am Vortag, als ich, während ich vor anderen Menschen etwas sang, auf ein Glas Wasser schaute, das neben mir im Gras stand. Ameisen liefen am äußeren Rand hinauf und innen wieder hinab, um die Flüssigkeit zu inspizieren. Da es nur Wasser war, ließen sie schnell davon ab und ich trank davon ohne eine Ameise zu verschlucken. Menschlich fühlt man sich doch immer erst im Vergleich zu anderen Wesen, denke ich. Wenn einem bewusst wird, dass man zu groß ist, um an einem Wasserglas hinaufzuklettern oder zu kleine Lungen hat, um an den Grund eines Sees zu tauchen, der sich unter einem in die Tiefe streckt. Man probiert es, atmet tief ein und taucht hinab, hört das Knacken in den Ohren, sieht verschwommenes Grün und Blau. Dann wird die Luft knapp und man strampelt schnell zur Oberfläche, durchbricht die Grenze, da wo das Wasser transparent ist und atmet. Links hinter den Bäumen liegt das Kraftwerk, dass auf Sparflamme läuft, da Sommer ist, rechts rauscht die Autobahn, die blauen Schilder mit der weißen Schrift flimmern in der heißen Luft. 

Und schon wieder weiß ich nicht, ob ich träume oder wirklich hier schwimme und die Unruhe kommt über mich, denn in den Träumen lasse ich mich dann oft nach unten sinken ohne zu ertrinken. Und ich merke, dass ich allein es in diesem Moment entscheiden kann, kontrolliert nach unten zu sinken und die Kontrolle über mich zu verlieren. Das ist Leben, denke ich. Und dann fürchte ich mich wieder, menschlich zu sein und weiß, warum ich nur ein oder zwei mal pro Sommer schwimmen gehe. 

TV

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

#412 Atemschrei

Seit 10 Jahren kehrte er das Treppenhaus eines Buchlagers. Ein alter Plattenbau mit Stufen aus glattem Beton und definierten Winkeln und Kanten. Nicht wie die ausgetretenen Holzstufen im Nebengebäude der Tierpathologie, in der er vorher angestellt war. Den Dreck dort aus den Rissen und Fugen herauszubekommen, dauerte Stunden. Aber hier auf dem Beton fühlte es sich an wie ein Tanz, wenn er den Besen in sanften Wellen über den Boden schwang. Auf dem Weg dort hin und zurück kam er jeden Tag an einem kleinen Geschäft vorbei. Lange Zeit war es ein Imbiss, betrieben von einer Frau und einem Mann, die Filterkaffee, Cola in Dosen und zwei Sorten Flaschenbier verkauften. Dazu ganz akzeptable Pommes aus einer in die Jahre gekommen kleinen Fritteuse.  Als er sich entschloss, mit den beiden einmal mehr Worte zu wechseln, als "Eine Cola, bitte."   - "1,20" und "Stimmt so." teilte ihm die Frau mit, dass sie in zwei Wochen endgültig schließen - Rente. Beide hatten bis z...

#411 Lachwald

Die nassen Blätter der Bäume im Wald hängen tief, so tief, dass sich Silvio entscheidet, den Arm zu strecken und sie zu berühren. Eine Entscheidung bewusst treffen, sie in Signale umwandeln, die den Körper eine Handlung vollziehen lassen, geben ihm das Gefühl ein wenig Kontrolle über sein Leben zu haben. Er sieht den Menschen, die ihm entgegenkommen ins Gesicht. Er lächelt sie an. Irgendwann hat er damit aus einer Laune heraus angefangen und jetzt wird er diese Gewohnheit nicht mehr los. Früher, war er dafür bekannt, finster drein zu blicken. Wie oft sagten die Menschen zu ihm: "Lach doch mal." Aber es ist ja klar, dass "Lach doch mal" - das letzte ist, was einen dazu bringt, zu lachen, also wirklich zu lachen oder zu lächeln und nicht nur die Mundwinkel nach oben zu ziehen, bis die Zähne zu sehen sind und man aussieht wie ein perverser Clown.  Eigentlich, und daran erinnert sich Silvio immer wenn er lächelt, ist lachen nur ein evolutionäres Überbleibsel einer Verte...

#410 Bibelfliege

Steve sitzt an seinem Küchentisch. Der Tisch ist aus einem hellen Holz gefertigt, er hatte ihn gebraucht gekauft, einige dunkle Verfärbungen, dort wo schon vor ihm jahrelang Menschen ihre Arme abgelegt hatten. Erst beim Essen und später auch die Köpfe nach langen Trinknächten. Da sind auch Kerben, wo rohes Fleisch und Zwiebeln direkt auf dem Holz geschnitten wurden. Vielleicht sogar, so denkt er sich, hat auf diesem Tisch mal jemand Buchstaben aus einer Zeitung für einen Erpresserbrief mit dem Teppichmesser ausgeschnitten und dabei kleine Kerben hinterlassen.  Er fährt mit seiner Hand über den Tisch. Hinter ihm fällt flaches Sonnenlicht durch das Fenster. Die Blätter der beiden Bäume auf dem Hof verlieren langsam ihr Grün, aber der Wind ist noch nicht stark genug, sie von den Ästen zu reißen. Neben dem Tisch hängt ein Schrank, der zu der ebenfalls gebrauchten Einbauküche gehört, die Steve einer Frau abgekauft hat, die aus ihrer Stadtwohnung aufs Land zog. "Aus gesundheitlichen Gr...