Da steht einer an der Kasse vom Gemüsemarkt und verdreht sich ganz komisch. In der linken Hand hält er einen Stoffbeutel, in den er gerade ein Bund Petersilie, verschiedene Pilze und Lauchzwiebeln gepackt hat. In der rechten Hand hat er zwei Geldscheine, die er nun versucht in die linke Hosentasche zu schieben. Dabei drückt er den Rücken nach vorn durch und bewegt sein Becken nach links, macht seinen Körper zum kompliziertesten Abschnitt einer Formel-1 Rennstrecke. Die Scheine, schon ganz geknittert, weil hastig entgegen genommen, landen ganz knapp im unteren Ende der Hosentasche, schauen noch ein Stück heraus. Er löst sich aus der Verrenkung, sein Rücken wird von einer Haarnadelkurve mit Bodenwellen wieder zu der holprigen Landstraße zwischen Leipzig und Halle und er verlässt das Geschäft.
Er trottet die Straße herunter, die Straße ist breit, die Sonne scheint aus einem kargen Blau auf ihn herab. Durch die Gläser der Sonnenbrille, die auf seinem Nasenrücken ruht, sieht er alles etwas kühler, ein bisschen kontrastreicher, als es in Wirklichkeit ist. Durch zwei Glasscheiben, denn es ist echtes Glas, dass in diesem Rahmen aus schwarzem Acetat steckt. Die Gläser ursprünglich mal für amerikanische Kampfpiloten entwickelt, wurden, wie viele Erfindungen für das Militär, nach kurzer Zeit auch für den zivilen Markt produziert und ermöglichen inzwischen seit vielen Generationen Millionen Augenpaaren auch bei hellster Sonne, einen klaren Blick auf die Umgebung.
So auch den beiden braunen Augen, die in seinem Kopf gewachsen sind. Und diese Augen bleiben an den blauen blitzenden Lichtern eines Rettungswagens hängen, der in einhundert Metern Entfernung an der Kreuzung steht. Jedes Auge bleibt an diesen Leuchten hängen, ob es will oder nicht. Und er schaut, was dort geschehen ist. Das schamhafte Interesse am Leid anderer, dem man sich so schwer entziehen kann und das man auf die Evolution schiebt. Uralte Reaktionen, als der Mensch noch Herdentier war und überprüfte, ob der Bergpuma, der gerade eines der anderen Tiere aus der Herde gerissen hat nun schon satt ist oder auf weitere Beute aus ist. Aber da schwingt auch noch eine andere Empfindung mit, die ihm während er sich nähert noch peinlicher ist. Die Bestätigung der eigenen Unversehrtheit im Angesicht eines anderen, der gerade verletzt oder tot ist. Er hatte das mal in einem Buch gelesen, wo jemand schrieb, dass in jedem Mitleid mit kranken Menschen immer auch eine Distanz und Erleichterung mitschwingt, dass es einen selbst nicht so schlimm erwischt hat.
Und so versucht er bewusst schnell an dem Krankenwagen vorbei zu gehen, den Blick bewusst nach vorn gerichtet. Aber da ist gar nichts mehr zu sehen. Die geschädigte Person wird im Inneren des Krankenwagens behandelt, transportfähig gemacht oder wiederbelebt. Die geschlossenen Türen und milchig verblendeten Fenster überlassen es der Fantasie, wie schlimm es die Person erwischt hat. Das macht es nicht gerade besser. Aus einem Geschäft vor dem der Krankenwagen steht, tritt eine Frau auf den Fußweg. In der Hand hält sie einen vollen Wasserkocher. Sie gießt den Inhalt auf die Gehwegplatten vor sich, spült etwas hinweg, dass dort nicht hingehört. Blut soll man ja mit kalten Wasser auswaschen. Das gilt zumindest für Kleidung. Aber gilt es auch für Beton, überlegt er. Und er fragt sich noch, ob die Frau das aus Mitleid tat oder aus Geschäftsgründen, weil sich Körperflüssigkeiten vor dem Einzelhandelsgeschäft auf jeden Fall negativ auswirken.
Was er gar nicht bemerkt hat, ist der Weg, den die beiden Scheine genommen haben, die er sich umständlich und kurvenreich in die Hosentasche schob. Während er die Straße hinunterging, entfalteten sie sich langsam aus ihrem knittrigen Zustand und jeder Schritt schob sie ein Stück weiter aus der Tasche, bis die Schwerkraft ihrer Pflicht nachkam und erst den einen, dann den anderen Schein Richtung Boden zog. Der Wind wehte sie auf die andere Straßenseite, vor zwei fremde Füße. Eine Hand hob sie auf und kaufte sich eine halbe geschnittene Ananas im selben Gemüseladen, führte die Stücken in einen Mund mit in dem einem Zunge die Fruchtsäure brennend an ihrer Spitze spürte.
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