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#403 Atmende/DVD-Menüs

Ich drehe mich auf den Rücken und reibe in entgegensetzten Kreisbewegungen mit meinen Handballen ganz fest meine Augen. Dieser Druck bringt mir Enstpannung, schon seit Kindertagen. Die Tage sind aufgefädelt an einer Schnur, wie Perlen aus Nussbaum, jede wie die andere und mit der Zeit werden sie dunkler, weil sich Dreck in den Poren des Holzes verfängt. Die Stücke der groben Filzschnur, die zwischen den Perlen hervorschaut, das sind die Nächte in denen ich zwischen drei und vier Uhr wach liege, jede ein bisschen anders, aber bestimmt von meinem Atem, der, wie mir einige Menschen sagten, so flach sei, dass sie manchmal nicht wüssten, ob ich überhaupt Sauerstoff aufnehme oder noch am Leben sei. Ich beobachte diesen Atem, mein Brustkorb hebt sich, dann senkt er sich und die aus meiner Nase strömende Luft erzeugt hohe Töne, wie ganz kleine Geigen oder weit entferntes Klagegeschrei. Und manchmal, wenn ich diese Töne im Halbschlaf höre, bin ich nicht sicher, ob sie aus mir heraus entstehen oder doch von außen kommen. Denn da draußen erklingt in der Ferne auch ein Chor. Menschen singen zu Musik, die aus einem Gerät strömt. Es ist kein wildes Gegröle, Gerappe oder eine sonstige Form, die einem rebellischen Verlangen Ausdruck verleiht, nein, es ist ein getragener mehrstimmiger Gesang, beinahe religiös und ich stelle mir vor, wie die besoffenen Kids jetzt Stück für Stück durch disziplinierte Jugendgruppen ersetzt werden, die ordentliche Lieder Nachts an Feuern singen, zur Abhärtung tragen sie kurze Hosen und kniehohe Wollsocken, egal bei welchem Wetter. Das Radio läuft ganz leise neben mir aus dem Telefon und ich lasse mich von diffusen Informationsblöcken umwehen. Der NS-Verbrecher Baldur von Schirach, Erfinder der Hitlerjugend, hatte gerade seinen zweiundsiebzigsten Todestag und als ich den Namen des Ortes höre, in dem er seine letzten Lebensjahre verbrachte und auch starb, stelle ich fest, dass genau an diesem Ort, nur zwei Tage vor seinem Todestag ein Gebäude, ein Hotel "aus dem Nichts" eingestürzt ist. Ich überlege, ob es entweder eine Rache des Geistes von Schirach ist oder eine späte karmische Reaktion, die über die Stadt Kröv hereinbrach. Und hat der Gesang etwas damit zu tun? Wird da draußen gerade ein Ritual einer geheimen Jugendgruppe abgehalten, dass über mehrere Nächte lief, den Geist rief, der dann das Haus zum Einsturz brachte? In der Nacht gibt es so viele Klänge und Geräusche und weil ich sie nur höre und ihren Ursprung nicht sehe, konstruiere ich mir zwanghaft einen Sinn aus ihnen zusammen, der mir der Schlaf raubt. Vielleicht ist der Chorgesang auch nur der Sound eines Startmenüs einer Horrorfilm-DVD mit einer Satanskultstory, die bei jemandem in Dauerschleife läuft. Die Person ist schon im ersten Viertel des Films eingeschlafen und wird irgendwann kurz aufwachen, den Bildschirm ausmachen und am nächsten Morgen gar nichts mehr davon wissen. Da kommt der Regen, er fällt in gleichmäßigem Rauschen auf das Fensterbrett aus Metall. Das ist das Zeichen für mich, die Handballen von den Augen zu lösen, mich auf den Bauch zu drehen und mich in den Schlaf treiben zu lassen.

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