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Pandemonia 94 - In Baden nicht baden

Gestern verbrachte ich Zeit an einem Ort, der im guten Sinne umfunktioniert wurde. Wo bis vor einigen Jahrzehnten noch Kohle gewonnen wurde, kamen findige und geduldige Menschen auf die Idee aus den daraus entstandenen Löchern Seen zu machen und eine Renaturierung vorzunehmen, also Wasser und Regenwasser dort hineinzuleiten und Flora und Fauna anzusiedeln. Einige Jahre später, also ungefähr jetzt, sieht das alles ganz possierlich aus. Es wurden Häfen für Boote und Strände für Wassersport angelegt. Im Hintergrund sieht man neben den überall präsenten Windrädern einige alte Schlote, sehr hohe Schornsteine und durch die Luftmassen, die zwischen Betrachter und Objekt liegen, in ihren Konturen unscharfe Gebäude aus der Kohlezeit. Die neu errichteten Gebäude sind durchweg sehr kantig, modern, energiesparend und etwas kühl. Ein Flair von Mediteranität liegt in der Luft, aber eigentlich riecht es nach Mitteldeutschland. Ich bemerkte, dass hier Investitionen getätigt wurden, Gebäude hochgezogen und an Ideen geglaubt wurde, mit dem Ziel sie an andere zu verkaufen. Ein Hauch von Schickeria, zu erkennen an den hellen Farbtönen der Kleidung einiger Passanten und kleinen Strohhüten in den Kajüten der Boote. Viele Menschen die an der sogenannten Seepromenade saßen, die einst die Oberkante des Kohleabraums war, machten auf mich aber einen durchaus provinziellen Eindruck, was ja auch verständlich ist, denn ich befand mich ja in der Provinz. Dies mag abwertend klingen, aber so ist es nicht intendiert. Ich stellte fest, das eine Durchmischung stattfindet und die edlen Restaurants von normalen Menschen besucht werden. Einmal Spaghetti Bolognese und Campari bitte, zum Nachtisch ein Eis und dann noch ein Stück an der Aufschüttung am Wasser entlang, bevor es über den Hügel wieder in die Wohnung geht. Wenn ich das Schreibe empfinde ich Mitleid und ging mit sonnenbebrilltem gesenktem Haupt zwischen diesen Menschen entlang. Warum eigentlich Mitleid? Weil ich, mal wieder ihr kleines Glück als nichtig zu entlarven glaubte? Weil ich es nicht ertragen konnte, wie ein älteren Mann mit ängstlichem Blick sich seine Nudeln in den Mund gabelte? Hat es ihm geschmeckt? Habe ich ein Recht darüber zu befinden, was die Leute glücklich macht? War es am Ende nur Neid, weil ich nicht glücklich war? Eigentlich war ich es, als ich dann selber am Kai stand und einem ankommenden Ratfahrer zunickte, der aus den Pedalen klickte und nach einem Schluck aus seiner Trinkflasche, würgte und etwas in das Wasser spuckte. Später saß ich in einem Raum voller Kunstwerke, die wie ich hörte "nicht billig" waren. Das erste, was mir in den Sinn kam, war eines oder zwei zu stehlen und dann zu verkaufen. Das zweite war, dass auf dem einen die Welle von Hokusai um 90 Grad gekippt zu sehen war. Am Ende des Abends nutzte ich die Gelegenheit und verstaute eine Flasche Weißwein in meinem Gepäck. Bevor ich den Ort verließ stellte ich sie aber wieder an ihren Platz zurück, da etwas in mir karmisch rumorte und vom Stehlen abhielt. Ich erinnerte mich an meine Kindheit, in der ich manchmal Spielzeug von Freunden "mitgehen" ließ und dachte, auch wenn das hier reichen Leuten gehört und ihnen der Verlust einer Flasche nicht wehtun wird, lasse ich es doch zum Wohle der kosmischen Güte bleiben und irgendwas muss ich ja auch mal gelernt haben in den letzten Jahren. Nachts dann viel Schweiß und Rastlosigkeit. War das der Dank? Wohl kaum. Man kann keinen Dank für eine gute Tat erwarten. Ist denn das Unterlassen einer unmoralischen Tat überhaupt eine gute? Fragen...über Fragen. Baden war ich nicht.

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