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Schwebende Lasten/Doppelkind

Vor der Haustür standen zwei Leichenwagen Motorhaube an Motorhaube, als würden sie sich unterhalten oder küssen wollen. Eine Beifahrertür war geöffnet und ein Bestatter lehnte sich mit dem Oberkörper hinein und drückte sein Gesicht in die Polster des Sitzes, als würde er in ein Kissen schreien wollen. Ich hörte aber keine Schreie, weil sie entweder durch das Sitzpolster vollständig gedämpft wurden, er gar nicht schrie oder in Meditation nur sanft vor sich hin summte. Er war auf jeden Fall nicht tot, die anderen zwei Bestatter sowie noch eine Kollegin, alle bekleidet mit schwarzen Anzügen, weißen Hemden und schwarzen Westen standen um ihn herum und sprachen von allergischen Reaktionen. Ich fragte trotzdem, ob sie Hilfe bräuchten, denn auch Bestatter werden mal krank. Aber der älteste von den dreien antwortete: "Nein, nein, der Abschleppwagen kommt gleich." Es schien also einen der Wagen erwischt zu haben. 

Ich selbst hatte mich auch mal bei einem Bestattungsunternehmen beworben, bevor ich drei Sommer lang im Zoo Leipzig vor der Jason Statue und neben den Seelöwen Eis verkauft habe. Im Rückblick schien es damals extrem kompliziert an genug Geld zu kommen, obwohl man insgesamt viel weniger brauchte. Aber wer fast gar keins hatte, hatte trotzdem zu wenig oder war einfach nicht strebsam genug. Ich glaube, dass das Stellenangebot in der Tür des Bestattungsunternehmens hing und ich nach zwei Tagen, an denen ich daran vorbei schlich hinein ging und mich vorstellte. 

Die Dame mit der ich sprach, erklärte, dass ich mir bewusst darüber sein müsste mit Toten zu tun zu haben, diese auch anfassen müsse und dass das kein Problem für mich sein sollte. Ich erinnere mich nicht, was ich darauf antwortete, sie fuhr aber fort, dass sie auch schon Leute hier hatten, deren Beziehungen zerbrochen sind, weil sich der andere Partner nicht mehr berühren lassen wollte von dem der vorher Leichen berührt hat. Ich könne es mir ja überlegen und meine Unterlagen dann morgen vorbei bringen. 

Ich dachte darüber nach und brachte am nächsten Tag nichts vorbei, weil ich zu faul war, aber mich auch an Geschichten von Bekannten erinnerte, deren Freunde Bestatter waren und denen beim Transport einer Leiche, selbige zerfallen ist,  bzw. das Innere des Menschen verflüssigt war und der gesamte Körper im Fahrstuhl in sich zusammenfiel, wodurch sich der gesamte Menschenbrei im Fahrstuhl verteilte, in den sie den Sarg angeschrägt stellen mussten, weil die Kabine zu klein war. Kurz darauf entdeckte ich die Anzeige für den Eisverkauf im Zoo und das Bestattungsgeschäft wich bald einem Bäcker, bei dem ich nie etwas kaufte, vor allem keine mit Erdbeermarmelade gefüllten Pfannkuchen oder andere Sachen mit halbflüssiger Füllung.

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