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Schneewehe/Knusperflocke


Editorische Notiz: Die Anhäufung von Tippfehlern in der letzten Veröffentlichung wurde beseitigt. Ich bitte um Verzeihung und gelobe Besserung.
Erneute nächtliche Heimsuchung, diesmal durch Mullmann: Ja, es war eindeutig ein Mann in Mullbinden, der da neben dem Bett stand und nach mir greifen wollte. Er war von oben bis unten eingehüllt, ich glaube Mund und Augenpartie waren etwas lockerer gebunden. Es mag sein, dass es aufgeschrieben lustig klingt und das Bild einer lustigen Faschings- oder Scoobie-Doo Mumie entsteht, die etwas tapsig durch die Gegend läuft und dann mit ihrem Mull irgendwo hängen bleibt und sich in ein Nichts auflöst. So wie ich es mir von manch dunklen Gedanken wünschen würde, die mich Nachts umschwirren, was ja eigentlich auch ihre Natur ist: ein Leib von menschlicher und damit bedrohlicher Form, der aber innen leer oder nur Luft ist. 

Nun gut, dieser Mullmann aber streckte seine Arme aus und griff nach mir. Ich versuchte in meiner Angst einen klaren Gedanken zu fassen, wollte erst "Hilfe" oder "Lass mich" sagen, aber brachte dann ein "Was willst du von mir?" über die Lippen. Doch beim wiederholten Versuch, diesen Satz, dieses Kommunikationsangebot auszusenden, bemerkte ich, dass nur Genuschel aus mir drang, so als könnte ich meinen nicht bewegen und hätte Mullbinde im Mund. Da stand ich also wie so oft selbst an meinem Bett und bedrohte mich mit finsteren Gedankengriffeln. Hätte ich mal an der verbundenen Hand gezogen, hätte sich dieses Spiegelbild in Mull, dass ein düster gelaunter Narziss da im Schlaf erblickte aufgelöst. Aber er mag es ja, dieses Bild, mag es in diesen Spiegel zu blicken. Mit einem Blick voll vertrauter Angst und Abscheu.

Ein anderes Bild, dass ihn faszinierte erschien kurze später: eine einzelne Wespe kroch in einem gelblich schimmernden Raum über eine glatte Fläche. Ich wusste, dass es eine aggressive Wespe war und wollte sehen, was sie so tut. Doch erstmal kroch sie nur herum. Zur Wespe wurde ein Vogel hinzugegeben. Er war auch gelb, etwas gedrungen und saß herum. Beide Tiere bemerkten sich vorerst nicht. Die Wespe griff nicht an, der Vogel pickte nicht. Im nächsten Schritt kamen zwei weitere Wespen in den Raum. Sobald diese da waren, fing die erste Wespe an, den Vogel zu umfliegen, dieser nahm Notiz davon, schien aber noch nicht sehr gestört. Mir war das nicht genug, ich begann sie anzufeuern: "los, los los"...die anderen zwei Insekten beobachteten ihre Artgenossin. 

Das unmotivierte Umschwirren und Krabbeln zog sich eine Weile hin, bis alle drei Wespen auf ein mir nicht sichtbares Zeichen zum Angriff übergingen. Eine, ich glaube, es war jene, die am Anfang allein war, begann dem Vogel Löcher in die Brust zu beißen und ganz feine Blutstrahlen ergoßen sich aus diesen Löchern. Geschwächt taumelte der Vogel umher. Die beiden anderen Wespen hielten ihn an den Schwanzfedern am Boden. Jetzt wird mir bewusst, dass der gelbe Vogel nicht einen Versuch unternahm zu fliegen oder die Angreifer mit Flügelschlägen abzuwehren. 

Während der Vogel also am Boden gehalten wurde, riss die, ich nennen sie jetzt mal "erste Wespe" mit einer schnellen Bewegung den Schädel samt oberer Wirbelsäule und den daran hängenden Organen aus dem Vogelleib heraus, sodass dieser noch lebend, aber zuckend umfiel und sein freundliches Vogelgesicht zu einer schlaffen Maske zusammenfiel. Im Inneren des Vogels war jetzt eine zähe Suppe aus Blut und Organresten zu sehen und ich hörte das Schlürfen von Wespe "zwei" und "drei", die am unteren Teil des Vogels diese Suppe heraus saugten. Ich fühlte Ekel und Ohnmacht beim Anblick dieser Brutalität aber auch eine Faszination über die Klarheit der Regeln der Natur. Wobei ich mich auch jetzt frage, warum die Wespen mit ihrem Angriff zögerten und dann so bestialisch oder sollte ich sagen menschlich, ihr Opfer ausweideten. 

Ich habe die orthographisch richtige Schreibweise von "ausweiden" gerade im Rechner nachgeschlagen und bin auf den Wikipedia-Eintrag "Hängen, Ausweiden und Foltern" gestoßen. Das wäre mit einem Duden nicht passiert. Dort las ich, dass dem lebendigen Verurteilten nach einer kurzen Hängung, lebendig die Gliedmaßen abgeschnitten oder gesägt und die Organe entnommen worden. Diese Methoden dienten der Abschreckung und der Gefügigkeit des Volkes. 

Ich war also, schlussfolgerte ich, wie bei der Mullheimsuchung ein Mullmann im zweiten Traum eine Wespe oder nein, ein Kanarienvogel, der von seinen Herrschern, den dunklen Kanariern gefügig gehalten werden soll.

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