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Diener für einen/Wahrheit für keinen


Der Plan: Sofort nach dem Erwachen unbefleckt von digitalen Informationen und Belangen anderer den Bluog einhacken, so wie einst Leonard Cohen sagte: am besten geht es in den Morgenstunden, wenn noch nicht so viele Gedanken anderer in der Luft hängen. Umgemünzt auf die Zeit digitaler Abhängigkeiten, mein Schädel noch nicht vollgestopft mit Informationen und Stimmen ist. 

Die Umsetzung: Starker Harndrang blockierte meine Denkfähigkeit und die Toilette war besetzt. Manchmal scheint es, als sträube sich mein Körper gegen das hier. Aber ich wackelte ein bisschen mit den Beinen und wie in der Kindheit ließ der Drang etwas nach. 

Dann schaute ich durch das halb geöffnete Fenster nach draußen. Genauer durch das kleine Dreieck kondensierten Wassers in der unteren Ecke des Fensters. Der blaue Himmel schien dadurch gestückelt, als blickte ich durch ein transparentes Kirchenfenster. Die Glocken zweier Gebetshäuser läuteten dann auch und eine Ente flog quakend außerhalb meines Sichtbereichs vorbei. Und für einen Hauch von Zeit war ich im Jetzt. Nahm nur die Formen war, die durch mein Auge gelangten. Die rechten Winkel des Fensters, das etwas eingebogene Kondensdreieck, dahinter das gerade Holz des Fensterrahmens und den Himmel mit ein paar ausgefransten Wolken. Das Geschrei der Vögel, die Glocken und ab und zu ein leiser Donner (Flugzeug, Böller, Autobahn).

Während ich das tippe, entsteht ein kurzes Déjà-Vu - diese Momente kenne ich, wenn sich die Wahrnehmung verschiebt, als würde ich einen Schritt zurück, weg von der Wirklichkeit treten. Ich kenne sie schon so lange, es muss angefangen haben, als ich sechs oder sieben Jahre alt war und seit dem treten sie auf. Einfache Alltagssituation, meist aber Interaktionen mit Menschen lösen sie aus, bzw. in diesen treten sie auf. Wenn sich jemand ein Pflaumenmusbrot schmiert und hineinbeißt, wenn die anderer Kinder im Hort in einer ausgedachten Welt eine Handlung vollziehen (Ritter, die eine Prinzessin aus den Fängen eines  Drachen befreien)

Und dann passiert es auf ein Mal - ich trete einen Schritt zurück, die Wirklichkeit rückt ab von mir und ich sehe die Handlungen, sehe sie nur als Bewegungen ausgeführt von Körpern und diese Handlungen wirken auf mich sinnlos - vielleicht verstehe ich für den Moment auch nur ihren Sinn nicht. Das macht ja einen Unterschied, ob man erkennt, dass etwas sinnlos ist oder man den Sinn der Sache nicht versteht. Das fühlt sich dann ernüchternd und kalt an - eben wie ein Kontaktverlust mit der Realität und auch etwas unheimlich. 

Als ich jünger war, wusste ich auch nicht, ob sich dieser Zustand wieder ändert, also ich den Schritt zurück in die Wirklichkeit wieder schaffen würde. Heute komme ich damit etwas besser zurecht, weil ich erstens weiß, dass es wie bei einem Fiepen im Ohr ist, das plötzlich kommt und alles blockiert, dann aber langsam wieder geht und der Normalität platzt lässt, zweitens ist da eben auch die Möglichkeit des kalten Blicks auf die Menschen und ihre Handlungen, der Blick auf die Sinnlosigkeit der Existenz. 

Wenn ich das hier so tippe, erkenne ich auch: das Zurücktreten lässt mich über Dinge nachdenken, die sonst einfach gemacht werden (Essen, Lachen, Interagieren) und macht diese Dinge damit auch kaputt. So wie in einem Kinderspiel in dem ein Kind plötzlich erkennt, dass die Gruppe gar nicht auf einem Rittergut ist, sondern im Klassenraum und es selbst und die anderen gar keine Ritter, Drachen und Prinzen. 

Hat man das einmal erkannt, geht es schwer zurück. Denken macht erwachsen, denken macht kaputt. 
Da spricht das Kind. 

Was brachte die Nacht? 

Ich las ein Informationsblatt, wie es in Behörden herumliegt und auf weißem Grund standen in grüner Schrift die drei Punkte des guten Atmens erklärt. 1. Bewusstmachen des Menschseins und Fokussierung auf das Zeng (sic!). 2. Einatmen und die heilende und reinigende Wirkung des Zeng aktivieren. 3. Gemeinsam mit dem Atem heraus mit den Grübelein und negativen Dingen. Die Ärzte sagten, so gesunde auch ich.

Studioaufenthalt, der wie gut gemachtes Making-Of-Material wirkte (gute Kamerabewegungen, Licht und 16mm Filmmaterial) - ich sprach davon es doch mal mit der Landschaft zu probieren, aber T sagte, zuerst müssen wir die Schwächen des Stückes erkennen und dadurch zu seinem Kern gelangen. Ich fühlte, dass dies brutal aber richtig war.

Ich irrte durch einen undefinierbaren Raum in dem mir Gitarren und Verstärker entgegen strömten und spürte den Konsumzwang Besitz von mir ergreifen, fing aber gleichzeitig an die Sinnhaftigkeit des Erwerbs anzuzweifeln. Jetzt also auch schon in den Träumen der Schritt nach hinten. Aber hey, wenn's um Konsum geht, haben Sinnzweifel auch was Gutes.

TV

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