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Krieg gegen Krieg/Kofferatom

Letzte Nacht war geprägt von Wach-Pein. Ich lag da, schwitzte ob der merkwürdig hohen Temperaturen und mochte mich selbst nicht. Und die Menschen, mit denen ich normalerweise zu tun hab. Ich kann sie nachts selten leiden. Entweder habe ich Angst vor ihnen oder mir passt etwas an ihnen nicht, was sich dann zu riesigen Problem-Türmen auswächst, gefolgt von Scham, dass ich so etwas denke. Es sind ja auch gar nicht die Menschen, auf die sich mein Fokus richtet, sondern Abbilder von ihnen. Ich versuche diesen Zustand seit neuestem anzunehmen, mich in das Jetzt zu versetzen und starre aus dem Fenster in die Dunkelheit, sehe ein, zwei Sterne und warte bis mich der Schlaf wieder holt - bemühe mich gar nicht darum, die Augen zu schließen. 

So ein Fenster, dass nahm ich auch gestern irgendwo zwischen Schmölln und Borna von einem Haufen Sperrmüll an dem ich mit Sydney anhielt, weil dieser wieder einmal Koffer sah, die er zu den anderen in die zweite Etage von Georgs Lager sperren wollte. Es gibt nämlich eine Theorie, nach der Koffer die Ursache allen Konsumübels sind. Denn wer einen Koffer hat, der braucht auch etwas zum Hineintun und wer eine Koffer hat, der braucht auch ein Ziel, zu dem es mit dem Koffer gehen soll. Und da er dies früh erkannt hat, fährt Sydney durchs Land und schnappt sich alle alten Koffer, bevor diese selbst zuschnappen können. Gleichzeitig mit unserem LKW hielt auch ein kleiner weißer Lieferwagen aus dessen Kofferaufbau eine Frau in Jogginghosen stieg, die wie wir den Sperrmüllhaufen begutachtete, in der Hoffnung etwas zu finden, was sie in ihren Koffer tun kann. Bis auf eine alte Packung Lametta aus den 60ern war da aber nichts zu holen. 

Eine andere Frau, die sich mittlerweile aus dem Fenster des bewohnten Hauses gegenüber lehnte, ermahnte uns, dass es hier nichts zu holen gäbe und schüttelte lange Zeit ihren Kopf. Wir stiegen in den LKW und fuhren zurück in die Stadt. Wo ich dann, wie bereits erwähnt wach lag. Ich werde das gefundene Fenster einbauen lassen, in der Hoffnung auf mehr Tageslicht und einen weiteren Blick auf die Sterne, vielleicht bin ich ja dann freundlicher zu den Nachtmenschen. Oder schlafe zur Abwechslung mal, denn dafür ist die Nacht doch eigentlich da oder? Manche werden jetzt sagen, nicht nur zum Schlafen (ihr wisst schon...) aber auch zum Feiern. Aber nach feiern ist mir gar nicht, schon länger nicht. Lieber ergehe ich mich im Schamgefühl wieder zu freundlich gewesen zu sein, zu witzig, ZU witzig im Sinne von verletzend, zu verstellt, oh, diese Nachtgrübelein in meiner Nachtgrube. 

Vor einiger Zeit erinnerte ich mich beim Grübeln an eine parallele Welt, in der mir die genannten Eigenschaften gut stehen würden: Ich wäre dort kein Musikant sondern der Betreiber eines kleinen Kiosks (15qm Ladenfläche und nochmal 10 fürs Lager) in einem zweigeschossigen ehemaligen Werkstatthaus. Das Schaufenster steht voll mit Palmen, Sansiverien und Monsteras, an der Kasse das Selbe. Eine leicht erhöhte Luftfeuchtigkeit prägt das Klima im Inneren. An der Decke hängt eine gelbe Neonröhre, es ist also hell, aber nicht grell. Die Regale sind aus Holz, der Tresen auch. Helles Holz, leicht gebeizte, geschliffene Kiefer (der Baum heißt ja genau so wie der Kauknochen...), der Boden ist dunkel, Estrich, die Wände auch Dunkelgrau. Da stehe aber überall Flaschen davor, Snacks und Zeitungen. Ich sitze hinterm Tresen, trage eine schwarze Cordhose, einen Marinepulli und eine alte M65 und lese die FAZ oder die New York Post, trinke einen schwarzen Tee aus dem Samowar und verkaufe den Leuten, was sie brauchen: Tabak, Kekse, Sternburg. Manche bleiben auf einen Tee (geht aufs Haus) oder ich komme kurz mit vor den Laden und schaue ihnen beim Rauchen zu. 

Ich bin dort freundlich, mache auch mal einen Witz auf Kosten der Kunden, aber nur bei denen, die ich schon ein bisschen kenne. Ansonsten spotte ich meist über mich selbst. Und wenn mir mal nicht nach Spott und Gespräch ist, was häufig vorkommt, übernimmt das Arri, der Blaue Hyazinth-Ara. Ich hab ihm rechnen beigebracht und er krächzt die Rechnung aus seiner Ecke, oben links neben dem Mellow-Corn Whiskey. Ich geb dann nickend das Wechselgeld raus und Arri sagt noch: "Danke, bis zum nächsten Mal." und imitiert dabei meine Krächzstimme. Manchmal machen wir's auch umgekehrt und ich spreche für ihn. Soundmäßig macht das kaum einen Unterschied. Wenn ich den Laden schließe und mich in das kleine Zimmer im zweiten Geschoss des Ladengebäudes zurückziehe (Bett, Sessel, Dusche, Küchennische, Fernseher, Fender Tweed Deluxe und ne Tele, Klo auf halber Treppe), sagt mir Arri "Gute Nacht" - ich antworte mit einem "Bis morgen", weil ich auch in dieser Welt ein "Gute Nacht" nur unter höchster Anstrengung über die Lippen bringen würde und Anstrengung liegt mir auch hier fern. Genauso verhält es sich mit "Guten Morgen". Ein "Morgen" kommt mir, warum auch immer höchstens büro-ironisch über die Lippen. Warum nur? Fragt das lieber Arri. Ich kümmer mich hier nur um die Blumen.

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