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#412 Atemschrei

Seit 10 Jahren kehrte er das Treppenhaus eines Buchlagers. Ein alter Plattenbau mit Stufen aus glattem Beton und definierten Winkeln und Kanten. Nicht wie die ausgetretenen Holzstufen im Nebengebäude der Tierpathologie, in der er vorher angestellt war. Den Dreck dort aus den Rissen und Fugen herauszubekommen, dauerte Stunden. Aber hier auf dem Beton fühlte es sich an wie ein Tanz, wenn er den Besen in sanften Wellen über den Boden schwang. Auf dem Weg dort hin und zurück kam er jeden Tag an einem kleinen Geschäft vorbei. Lange Zeit war es ein Imbiss, betrieben von einer Frau und einem Mann, die Filterkaffee, Cola in Dosen und zwei Sorten Flaschenbier verkauften. Dazu ganz akzeptable Pommes aus einer in die Jahre gekommen kleinen Fritteuse.  Als er sich entschloss, mit den beiden einmal mehr Worte zu wechseln, als "Eine Cola, bitte."   - "1,20" und "Stimmt so." teilte ihm die Frau mit, dass sie in zwei Wochen endgültig schließen - Rente. Beide hatten bis z
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#411 Lachwald

Die nassen Blätter der Bäume im Wald hängen tief, so tief, dass sich Silvio entscheidet, den Arm zu strecken und sie zu berühren. Eine Entscheidung bewusst treffen, sie in Signale umwandeln, die den Körper eine Handlung vollziehen lassen, geben ihm das Gefühl ein wenig Kontrolle über sein Leben zu haben. Er sieht den Menschen, die ihm entgegenkommen ins Gesicht. Er lächelt sie an. Irgendwann hat er damit aus einer Laune heraus angefangen und jetzt wird er diese Gewohnheit nicht mehr los. Früher, war er dafür bekannt, finster drein zu blicken. Wie oft sagten die Menschen zu ihm: "Lach doch mal." Aber es ist ja klar, dass "Lach doch mal" - das letzte ist, was einen dazu bringt, zu lachen, also wirklich zu lachen oder zu lächeln und nicht nur die Mundwinkel nach oben zu ziehen, bis die Zähne zu sehen sind und man aussieht wie ein perverser Clown.  Eigentlich, und daran erinnert sich Silvio immer wenn er lächelt, ist lachen nur ein evolutionäres Überbleibsel einer Verte

#410 Bibelfliege

Steve sitzt an seinem Küchentisch. Der Tisch ist aus einem hellen Holz gefertigt, er hatte ihn gebraucht gekauft, einige dunkle Verfärbungen, dort wo schon vor ihm jahrelang Menschen ihre Arme abgelegt hatten. Erst beim Essen und später auch die Köpfe nach langen Trinknächten. Da sind auch Kerben, wo rohes Fleisch und Zwiebeln direkt auf dem Holz geschnitten wurden. Vielleicht sogar, so denkt er sich, hat auf diesem Tisch mal jemand Buchstaben aus einer Zeitung für einen Erpresserbrief mit dem Teppichmesser ausgeschnitten und dabei kleine Kerben hinterlassen.  Er fährt mit seiner Hand über den Tisch. Hinter ihm fällt flaches Sonnenlicht durch das Fenster. Die Blätter der beiden Bäume auf dem Hof verlieren langsam ihr Grün, aber der Wind ist noch nicht stark genug, sie von den Ästen zu reißen. Neben dem Tisch hängt ein Schrank, der zu der ebenfalls gebrauchten Einbauküche gehört, die Steve einer Frau abgekauft hat, die aus ihrer Stadtwohnung aufs Land zog. "Aus gesundheitlichen Gr

#409 Zero Tone Inn/Druckerschwarz

Da steht einer an der Kasse vom Gemüsemarkt und verdreht sich ganz komisch. In der linken Hand hält er einen Stoffbeutel, in den er gerade ein Bund Petersilie, verschiedene Pilze und Lauchzwiebeln gepackt hat. In der rechten Hand hat er zwei Geldscheine, die er nun versucht in die linke Hosentasche zu schieben. Dabei drückt er den Rücken nach vorn durch und bewegt sein Becken nach links, macht seinen Körper zum kompliziertesten Abschnitt einer Formel-1 Rennstrecke. Die Scheine, schon ganz geknittert, weil hastig entgegen genommen, landen ganz knapp im unteren Ende der Hosentasche, schauen noch ein Stück heraus. Er löst sich aus der Verrenkung, sein Rücken wird von einer Haarnadelkurve mit Bodenwellen wieder zu der holprigen Landstraße zwischen Leipzig und Halle und er verlässt das Geschäft.  Er trottet die Straße herunter, die Straße ist breit, die Sonne scheint aus einem kargen Blau auf ihn herab. Durch die Gläser der Sonnenbrille, die auf seinem Nasenrücken ruht, sieht er alles etwas

#408 Verschwommene Kontore/Verdammnis

Durch das Fenster fällt Licht. Es ist das Licht aller Laternen der Stadt, dass sich an der Wolkendecke reflektiert. Es ist ein schwaches, leicht oranges glimmendes Licht, dass man auch sehen kann, wenn man sich Nachts über eine der Zubringerstraßen dieser Stadt nähert. Es hängt wie eine Glocke über den Häusern. Und in einem dieser Häuser liege ich unter dem Dach auf meinem Bett und starre den Schrank an, der an der Stirnseite meines Zimmer steht. Ich wende den Blick nicht ab und sehe, dass sich eine der Türen ganz langsam öffnet. An der oberen Kante zeichnet sich ein Schatten ab, schwarz, ungefähr so groß wie eine Hand und ohne dass ich Augen oder einen Mund erkennen kann, weiß ich, dass dies der Kopf sein muss, von diesem Etwas, dass mich beobachtet. Denn ja, ich fühle mich beobachtet, betrachtet. Das Wesen verharrt genauso wie ich für eine knappe Minute bevor es sich wieder ganz langsam hinter die Schranktür zurück zieht und diese dann auch schließt. Ich blinzele und stehe auf. Ich w

#407 Gewässert/Verbessert

Ich trage eine Monstera aus meinem Büro in das kleine Bad am Ende des Ganges. Ihre Blätter waren ganz trocken, nach dem sie für lange Zeit sehr üppig wuchs. Wenn ich sehe, dass Pflanzen durchhängen, stelle ich sie unter die Dusche. Und stelle mir vor, dass es sich für sie ein bisschen anfühlt, wie der Regen im Dschungel, wo sie eigentlich leben. So als ob ein Waldführer mit ein paar Stadtkindern, die nie das Leben in der Wildnis kennengelernt haben für einen halben Tag im Wald verbringt. Während ich den Topf trage, fällt mir auf, dass ich diesen schon durch mindestens 4 Behausungen mitgeschleppt habe. Er ist aus Ton, ziemlich bauchig und über die Jahre hat er eine bröckelige Kalkhülle bekommen. Beim Transport fällt davon einiges ab und hinterlässt Spuren auf meiner Kleidung. Ich erinnere mich, dass in diesem Topf jahrelang eine Wolfsmilch wohnte. So ein Gewächs, dass mit Stacheln bewehrt, wie eine Kakteenart aussieht, aber keine ist. Diese Wolfsmilch gehörte dem Künstler R. dessen Dach

#406 Quibeldey/Schuldkulthits

Ich konnte dem Konzept Mittagsschlaf im Kindesalter nichts abgewinnen. Schon im Kindergarten empfand ich diese eine Stunde erzwungene Stille als sinnlos. Sie begann damit, dass wir unsere hölzernen Pritschen, die als Lattenrost- bzw. Matratzenersatz mit grob gewobenen im rechten Winkel zueinander verlaufende Stoffbändern versehen waren, in dem Raum aufstellten, in dem wir sonst spielten oder versucht wurde uns irgendetwas beizubringen. Dieser Raum war in meinem Fall eine sehr großzügig geschnittenes Wohnzimmer im dritten Stock eines großbürgerlichen Hauses. Entweder in der DDR enteignet und für die Erziehung neuer sozialistischer Bürger umfunktioniert oder noch früher in Besitz genommen, nach dem die Besitzer aus einem den Nachbarn unerfindlichen Grund über Nacht das Land verlassen mussten. Wir stellten unsere Liegen dort auf, manchmal wurden die Rollläden herunter gelassen, manchmal blieben sie einfach oben. Jeder hatte sein eigenes Kissen von zu Hause mitbekommen, ein minimales Zuges