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Garaus/Windrinde


Ein Wildschwein rennt durch die Straßen. Es hat auf seinem Rücken langes Fell, dass mindestens genauso hoch wie es selbst nach oben aufgestellt ist, eigentlich so aussieht, als sei es geföhnt und an den Kanten ganz sauber geschoren und in die Form eines Quaders gebracht. Das Schwein wird von Hunden gejagt und der Fellquader auf seinem Rücken verwandelt sich in einen weiteren Hund. Die Menschen dort greifen nicht ein. Ich bemerke, dass ich meine eigene Hand halte. Ich bin nicht verängstigt, versoffen oder verzweifelt, erinnere mich aber an Momente, in denen ich in solchen Zuständen erwachte und mir selbst versuchte durch sanftes reiben der Oberarme Halt zu geben, mir selbst die Hand hielt, um nicht allein zu sein mit der Übelkeit und den pergamentenen Zuständen, in denen sich Körper und Geist nach Feierein befinden. 

Aber schon Baron Münchausen wusste, dass er sich und sein Pferd nicht an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen konnte und auch ich bin mir klar, dass mein Mir-Selbst-Die-Hand-Halten nur eine Simulation von Trost ist. Aber vielleicht reicht es ja. Das denke ich, während ich da liege mit einem klaren Kopf und doch, schwingt in meinem Brustkorb die Erinnerung an Übelkeit und Pein, genau so, wie die selbsterzeugte Simulation von Nähe durch Halten der eigenen Hand. 

Und ich schüttele mich ein wenig und zappele mit den Füßen, in Anbetracht der Potentiale des menschlichen Geistes. Dann gehe ich noch ein Stück weiter zurück und bin nach einem Konzert der Band "Zombie Joe", die mich in meiner Jugend unmittelbar geprägt haben, da sie aus der selben Saale-Stadt wie ich kommen und irgendwie nahbare Götter waren, Orientierungspunkte oder einfach nur eine richtig gute Band. Ich sehe die Wunde im Fuß von N., dem Sänger, die er sich bei einem Konzert unter einer Brücke am Flutbecken in Leipzig zugezogen hat, weil aus der zusammengezimmerten Holzbühne ein Nagel herausschaute und er barfuß performte. Eine 1,5cm lange tiefe Wunde aus der kein Blut floß. Er saß bei offener Schiebetür im weißen verbeulten Mazda-Bandbuß der neben der Bühne stand, verschnaufte kurz und dann gaben sie noch eine Zugabe. 

Später fuhren ich in dem Bus durch den Frühnebel zurück nach Halle und ich freute mich jedes Mal, wenn ich auf dem Nachhause-Weg von der Schule, wo ich mir im Informatik-Unterricht am TMG ihre Website anschaute, auf der eine gezeichnete Wolfsmutter zwei oder drei Wolfskindern Milch fütterte und den Release ihrer nächsten Single ankündigte , an dem weißen Bus oder seiner roten Reinkarnation vorbei kam und fragte mich, was der Schriftzug "Holy Smokes" bedeutete, der auf einer Kiste voller CDs vorne in dem Bus stand. 

Das Ereignis, auf das ich hinauswollte, muss dann auch unmittelbar danach stattgefunden haben: Nach dem Release-Konzert der oben erwähnten Single in einem kleinen Laden in Halle, wo ich zwischen eher starren Menschen meinen Leib zur Musik schüttelte, war ich irgendwann wieder Zuhause, alkoholisiert aber vor allem euphorisiert. Und mein Geist kombinierte, dass Musik in ihrer Gesamtheit nicht besser werden kann, als das was ich gerade erlebt habe und ich deshalb, als einen Akt der Huldigung meine E-Gitarre aus dem Fenster werfen müsse. Und so flog sie ca. 3:30 zwei Etagen durch die Luft, bevor sie auf den Fußweg aufschlug. Da sie nicht, wie ich erwartete zerbrach, ging ich unbekleidet nach unten und schlug sie am Hals haltend ein paar Mal auf die Steine. Ein Passant betrachtete etwas Lüstern meinen Leib und ging weiter. Ich riss die beiden Tonabnehmer aus dem Korpus und ging wieder nach oben. Der nächste Morgen brach an, ich fühlte mich frisch und leer und frei von Zweifeln und spürte nicht einen Moment das Verlangen mir selbst die Hand halten zu müssen.

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