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Balanceakt/Kakaoesplanade


Umarmungen, ein Thema, dem ich ambivalent gegenüber stehe. In Abgrenzung zu den mich umgebenden Post-Hippies in meiner frühen Jugend verwehrte ich diesen Art des Grußes, war verkannt als der Hand-Junge. Mich störte die Entwertung der Geste durch ihren inflationären Gebrauch. So vergingen ein paar Jahre - Barthaare kamen, Barthaare wurden grau und ab und zu gab es dann Momente, in denen ich gerne umarmt hätte, es mir aber nicht traute. Im Rausch war’s natürlich möglich, aber den Rauschhandlungen haftet auch immer etwas fremdliches an. Und wie M mir letztens in Erinnerung brachte, endete eine solche Rauschumarmung mit einem schottischen Bekannten in einer Rangelei, die den ganzen Nachhauseweg durch die morgendliche hallesche Innenstadt dauerte und damit endete, dass ich auf dem Marktplatz plötzlich vor den Schienen einer in die Haltestelle einfahrenden Bahn lag. Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, was der Grund war. Im Rückblick bleibt nur arge Verwirrung, weil die Begegnung die ganze Zeit zwischen Liebkosung und Schlägen mäanderte. Männer haben merkwürdige Formen der Kommunikation. 

Letztens aber gab es einen Moment, in dem ich bewusst eine Umarmung anbot und mir fiel etwas auf: Die Kraft der Verbindung zweier Körper, die sich für einen kurzen Moment recht großflächig berühren, in dem Fall sogar zweier Körper, deren Geister in der Vergangenheit viel miteinander geteilt und geschaffen haben. Und als wir uns (ohne im Rausch zu sein) zum Abschied an der Haustür berührten, den Körper des anderen spürten, wurde mir klar, dass ein Teil der Geste der Versuch ist, Vergänglichkeit zu verneinen. Oder anders gesagt, durch die Umarmung wurde mir überhaupt erstmal bewusst, dass wir zwei Körper, zwei endliche Wesen sind und nicht nur Geister, die bis über das Ende aller Zeiten hinaus Gedanken und Ideen austauschen. Und im Bewusstsein der Endlichkeit entstand eine Verlustangst, dass dieser Moment hier irgendwann endet und ich drückte zum ersten Mal ein Gegenüber wirklich an mich, in einem naiven Glauben, die Endlichkeit zu überwinden.

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