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Mondlichtritt/Trottoirtour

Ich gehe in einen Nebenraum, um meinen Pullover auszuziehen, der inzwischen schon einige Löcher bekommen hat. Ich trage ihn trotzdem, denn er hält warm. Aber genau deshalb will ich ihn jetzt ablegen. Denn der Hauptraum aus dem ich komme, ist nicht nur gut ausgeleuchtet, sondern auch ordentlich beheizt. Während ich durch die Tür in das Nebenzimmer trete, bemerke ich einen Mann, der im hinteren Teil des Raumes mit den Armen nach vorn an die Wand gestützt steht. Vor ihm auf dem Heizkörper sein Telefon. Er hört einer Person zu. Ich höre unweigerlich, was der Mensch am anderen Ende der Leitung - gehen Telefongespräche überhaupt noch durch Leitungen oder inzwischen schon komplett durch die Luft? - berichtet. Es ist die Stimme einer älteren Frau, schwach, brüchig und im Klang schwingt Schmerz mit. Sie spricht davon, dass es nicht geht, dass es brennt wie Feuer. Und der Mann spricht von einem neuen Termin, den "wir" nochmal ausmachen und dass dann noch einmal gemeinsam gefeiert wird. Ich höre das leicht gedämpft durch meinen Pullover, den ich über meinen Kopf ziehe. 

Menschen ziehen sich zurück, wenn sie Dinge tun müssen, die nicht für die Öffentlichkeit gedacht sind: Toilettengänge, Telefonate mit Leidenden, Entkleidungen...es scheint das Streben nach Aufrechterhaltung einer Ordnung zu sein, der Versuch, eine Situation nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen und dann dafür verantwortlich gemacht zu werden. Ich lege den Pullover zu meiner M65, ziehe das Sakko über ein schwarzes Polo-Hemd, ein Kleidungsstück, dass ich nie zuvor trug und gehe zur Arbeit. 

In der gut ausgeleuchteten Halle spricht jetzt ein Mann über Bilder von Meeresansichten, die an der Wand hängen. Eine Stunde vorher gab er mir die Hand und ich erschrak, weil er mit der Geste des Handschüttelns seinen Oberkörper und sein Gesicht ungewöhnlich nah an meines brachte. Die anderen Menschen im Raum hören seinen Worten zu und ich nehme Donner wahr, der von außerhalb der Halle kommen muss. Der Donner wird lauter und heftiger und ich überlege, ob die anderen Menschen ihn nicht hören oder ihn ignorieren oder einfach nur glauben, dass es sich, wie immer um ein Feuerwerk handelt, dass aus irgendeinem feierlichen Grund, gezündet wird. So wie es eben schon immer war. Dass es auch der Beginn eines Krieges sein könnte, kommt hier höchstens den ältesten, die das vielleicht noch als Kinder im Zweiten Weltkrieg mitbekommen haben in den Sinn. Aber gerade sie versuchen das so lange wie möglich zu ignorieren und hören dem Vorgetragenen zu. 

Wie lange lässt sich ein Krieg ignorieren? Bis er in den Nachrichten verkündet wird? Bis Soldaten durch die Straßen laufen? Bis Sirenen heulen? Bis das Geräusch der Bombertriebwerke zu hören ist? (Wie klingen Sirenen und Bomber eigentlich?) Bis die Raketen am Stadtrand einschlagen? Bis die Erde bebt? Und immer noch könnten die Menschen in dem gut ausgeleuchteten Raum dem Vortrag lauschen, in dem es um Farben und Meer geht. Sie können das so lange machen, bis eine Bombe auf das Gebäude fällt, in dem sie sich befinden. Ich denke also, man kann den Krieg bis zur letzten Sekunde ignorieren. Wenn man will. Und jetzt bemerke ich etwas: Die verbrauchte Luft, die ich durch meine Nasenlöcher ausstoße, trifft in einem Winkel auf das vor mir stehende Mikrofon, der ein Rauschen erzeugt, dass tief und grollend klingt. Wie ein Donner. Der Donner in mir.

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