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Zaunzeuge/Zeitstrom

Ich schaue hoch zur Laterne, in ihr bronzefarbenes Licht und überprüfe, wie dicht die Regentropfen aneinander vorbei zur Erde gleiten. Dies hilft vor allem, wenn man schon eine Weile draußen unterwegs ist, die Klamotten leicht angenässt sind und man das Gefühl für Trockenheit verloren hat. Und die Tropfen hatten eine Handbreit Abstand voneinander und damit war mir klar, dass der Regen nachließ. Ein voll besetztes kleines Auto nähere sich der Kreuzung an der ich stand und durch das heruntergelassene Fenster sah mich der Beifahrer an, ich schaute zurück, schaute zu lang und vielleicht auch etwas zu freundlich und dachte mir noch, dass ich die Person gar nicht kenne, doch die Hand war schon zum Winkegruß erhoben und die des Beifahrers auch und weil der Grußaustausch auf dem Weg war, zogen wir's durch. Ohne zu wissen, ob wir uns kannten oder nicht. Das las ich zumindest aus seinem Gesicht, dass meinen Ausdruck zu spiegeln schien. Dann wurde die Ampel grün und das Auto fuhr davon. 

Ich ging weiter durch die Nacht, durch den abnehmenden Regen und hatte endlich Zeit mir ein Plakat näher zu betrachten, dass ich tagsüber schon mehrmals aus dem Augenwinkel sah, mir aber nie sicher war, ob es den Schreibfehler, den ich entdeckt zu haben glaubte, wirklich gab. Es handelte sich um die Werbung für eine Monstertruck-, bzw. Autoroboter-Show. Nichts, was mich im eigentlichen Sinne interessierte, als Pessimist noch am ehesten, der Fakt, dass die fantastischen Abbildungen, in diesem Fall die eines Trucks, der sich in einen riesigen Roboter verwandeln kann, als Höhepunkt einer Show herausstellt, die geprägt ist von den üblichen Motorradstunts und einem Mann, der in Flammen steht. Am Ende dann ein LKW, dessen Motorhaube und Windspoiler hydraulisch bewegt werden, etwas Kunstnebel tritt aus einem Rohr und dazu faselt eine Roboterstimme mit Rockmusik unterlegt irgendwas von der baldigen Unterwerfung der Menschheit durch Maschinen. Ist doch schon so. Und dafür zahlen Leute Eintritt. Naja, ich will jetzt niemandem die Begeisterung nehmen, aber die Plakate halten doch meist nicht, was sie versprechen. 

Und eigentlich ging es auch um den Schreibfehler. Ich war mir nämlich sicher, dass auf einem der Plakate "Giants of Irion" stand, wo es eigentlich "Giants of Iron" heißen müsste, was sich sicherlich auf die gigantischen Metallboliden bezog, die Stars der Show waren und die die Veranstalter nicht "Transformers" nennen durften, weil sie sich die Lizenzgebühren  nicht leisten konnten. Doch als ich am nächsten Exemplar vorbei kam, war das Wort richtig geschrieben und ich fing an, an mir zu zweifeln. Denn schon oft glaubte ich mir sicher zu sein, Dinge so gesehen zu haben, wie ich sie Erinnerung hatte, woraufhin ich überzeugt von meinem Wissen, denn ich hatte es ja so gesehen mit anderen aneinander geriet und dann hatte ich doch unrecht. 

Nun aber war es Nachts und ich ging ruhigen Schrittes am Rand der Stadt entlang mit dem Ziel eines der Plakate zu finden und traf endlich sogar auf mehrere der Plakate nebeneinander. Und tatsächlich stand auf zweien "Iron" und auf einem, dessen Motiv leicht anders war "Irion". Ich hatte mich also nicht getäuscht und konnte den betriebswirtschaftlichen Fantasien in meinem Kopf freien lauf lassen. Und ich fragte mich, ob es überhaupt jemand mitbekommen hat. Ob der Plakatdesigner, der sicherlich zum Truckteam gehörte, die Kosten für den Neudruck und die Hängung von seinem Lohn abgezogen bekam, deshalb für sein Kind nicht die Schulmaterialien bezahlen, die Frau die Scheidung einreichte oder die ganze Show jetzt gefährdet ist, weil sowieso schon total knapp kalkuliert, weil die verwandelbaren Trucks extrem viel Benzin fressen, die Transformers-Anwälte doch schon ne Mahnung geschickt haben und das alles nur wegen einem Schreibfehler, wie sie jedem mal passeiren und und und...

Und dann fand ich mich neben einem Hauseingang wieder, an einer Wand, tippte etwas in mein Telefon und hörte von links kommend ein Rascheln. Und zwischen Wand und meinen schräg abstehenden Beinen schlich sich ein Igel vorbei, schnüffelte und blieb an den Biotonnen, die auf der anderen Seite des Hauseingangs standen stehen und schaute nach oben. Ich sah ihm zu, sah, wie nah er eigentlich seinem Glück in Form von Essenresten war, zwischen ihm und den Kartoffelschalen nur eine dünne Wand aus Plastik. Aber eben diese dünne Wand, also die der Tonne, war zu glatt, als dass er an ihr hätte nach oben klettern können. 

Es hätte einer höheren Macht bedurft, ihn glücklich zu machen. Ein starker Wind, der die Tonne zu Fall gebracht hätte oder ein übermütiger, die Gesellschaft provozierender Mensch, der das Umstoßen von Mülltonnen als Ausdruck seines Protestes gewählt hat. Es ging aber kein Wind. Ich habe früher Mülltonnen umgeworfen und auch mal einen Mülleimer aus Beton und Steinen eine abschüssige Straße herunterrollen lassen. Da frage ich mich bis heute noch, warum der nicht krachend in eines der Autos gerollt ist, die links und rechts am Straßenrand standen. Da hatten die Autos Glück und ich wohl auch, genauso wie bei der Flasche, die mal nach mir geworfen durchs Fenster im dritten Stock flog und niemanden unten auf der Straße getroffen hat. 

Aber heute, hier neben dem Igel stehend fühlte ich mich nicht berufen für Glück zu sorgen. Denn, des Igels Glück hätte genauso gut sein Ende sein können, hätte ich ihn, aus einer Schicksalslaune heraus genommen und in die Tonne gesetzt. Je mehr er gegessen hätte, desto tiefer wäre er in die Tonne gesunken und wäre letztlich in ihr verendet, denn an den glatten Innenseiten wäre es ihm unmöglich gewesen, herauf zu klettern. Ich wollte nicht dieser Gott sein. Und sagte es dem Igel. Er sah mich an, schien es zu verstehen und trottete wieder unter meinen Beinen hindurch an der Wand entlang, heraus aus dem Lichtkreis der Laterne ins Dunkel. Ich schaute nach oben, um den Abstand zwischen den Tropfen zu messen. Der Regen war vorüber.

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