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The Zero/Explosion

Auf der Straße roch es nach Erdbeer-Kaba, ich freute mich kurz, dachte dann aber sofort an einen Giftgas-Angriff, weil ich vor langer Zeit mal gelesen habe, dass manche Gase nach Erdbeere riechen. So wie es eben gemacht wird: Ist mal etwas schönes im Gange, schaue ich vorrangig auf die eventuell negativen Aspekte. Früher fiel mir diese Wahrnehmungsstruktur gar nicht auf, heute stört sie mich schon fast. 

Ich war auf dem Weg zu einem Finanzhaus, einem sehr großen mit einer sehr großen Schiebetür die den Selbstbedienungsbereich vom Servicebereich trennte. Selbstbedienung, dass klingt in Verbindung mit Geld nach Gratisangeboten: "Nur heute jedes Geld um 50 Prozent reduziert." - dabei wäre das ja Inflation. Und die Benutzung der Automaten kostet ja auch Gebühren. Ich hatte Zeit für diese Gedanken, denn der Servicebereich war voll bis zur Schiebetür. Es war Ende des Monats, Zahltag, Rechnungstag und die Menschen brachten Bargeld, dass sie am Schalter abgeben wollten oder baten um Entsperrung ihres Kontos. 

Ich bekam die Anliegen in Fetzen mit, da ich exakt vor der Schiebetür stand, die ca. 6 Meter breit und 4 Meter hoch war und sich durch einen Sensor automatisch ca. 10 cm vor meiner Nase öffnete und schloss. Zu Anfang hob ich meine rechte Hand leicht, wenn sich die Türflügel auf mich zu bewegten. Eine lässige magische Geste, die die Tür kontrollierte, bei der aber auch immer die Gefahr bestand, dass ich meine Hand verliere. Ich war ein Rebell, den nichts aus der Fassung bringen konnte. Und so vergingen ein paar Minuten, bevor ich mich gar nicht mehr bewegte, die Schlangen an den Schaltern hinter der Glastür wurden nicht kleiner - es wurden riesige Mengen von Eurocents zur Zählung und Einzahlung abgegeben, nebenan schaute ein junger Mitarbeiter in einem zu den Farben der Filiale abgestimmten Oberteil gleichgültig nach vorn, während zwei junge Menschen, die Verständigungsschwierigkeiten hatten, ihm etwas erklären wollten. Der Mitarbeiter hatte auch einen kleine sehr helle graue Stelle in seinen Haaren. Später ließ einer der jungen Menschen seine EC-Karte in einer lässigen Geste über den Servicetresen in die Hände des Mitarbeiters gleiten. 

Ich sah das alles durch die geschlossene Schiebetür, denn die neue Herausforderung bestand für mich darin, so still zu stehen, dass die Sensoren nicht reagierten. Mit Erfolg! Ich war zu einem Geist geworden - denn auch als ich in den inneren Servicebereich treten und meine Rebellen-Handgeste dazu einsetzten wollte, die Tür zu öffnen, reagierte sie nicht mehr. Ich wedelte mit den Armen und nichts geschah - erst als ein indianisch aussehender Mann neben mir erschien, öffnete sich die Tür. Er drängelte sich vor, aber da ich ein Geist war, warf ich ihm nichts vor. Denn er musste ja davon ausgehen, dass Geister keine Gelder brauchen. 

Er wiederum wollte Geld einzahlen, aber das ging nicht, da das örtliche Geldinstitut nicht mit jenem zusammenarbeitete, bei dem er sein Konto hatte. Der Grauhaarfleck-Mitarbeiter versuchte es ihm zu erklären, riet ihm, dass er jemanden hier finden solle, dem er das Geld zur Überweisung geben kann, aber es gab auch hier: Verständigungsschwierigkeiten. Die Eurocents nebenan waren inzwischen eingezahlt und ich ließ meine EC-Karte wieder entsperren, denn ich hatte eine Aufgabe: 

Eine Lampe am anderen Ende der Stadt kaufen. Eine Lampe, die zum Sinnbild der Ungerechtigkeit in der Welt wurde, nein, dafür, dass einer der Gutes tut, nichts dafür erwarten sollte. Und so geschah es: 

Ich war mit frischem Geld in der Tasche auf dem Fahrrad unterwegs in den Norden der Stadt - quer durch den Wald und über Straßen, die mir angenehm unbekannt waren: breit, keine Radwege, der Himmel darüber grau, Häuser die gar nicht großstädtisch aussahen. Immer weiter fuhr ich, mit dem Wissen, dass meine Ziel am Ende mehrerer Straßen lag, die ineinander übergingen, ich also einfach nur auf dem Weg bleiben musste. So kam ich an einem 50er-Jahre-Häuserblock an, klingelte bei dem mir angegebenen Namen und lief durch einen engen Hausflur mit betonierten Stufen und einem Holzgeländer. Vor den kleinen Wohnungstüren standen vereinzelt Pantoffeln und das Gebell eines kleines Hundes schallte mir entgegen, bevor der Kläffer mir gegenüber stand, dann aber von seinem Besitzer, dem Verkäufer der Lampe, deren Besorgung mein Auftrag war, zurückgerufen wurde. 

Gemeinsam mit dem Hund wurde ich an der Wohnungstür von einem leicht verwachsenen, genauso kleinem Mann wie ich einer war, begrüßt. Der Flur war mietskasernentypisch schmal, links zwei Zimmer, rechts hinten eins, davor die Küche. Überall Holz mit dem der Ofen befeuert wurde, an der Wand eine Sammlung von "Die Ärzte" und "Die Toten Hosen" Schallplatten. Denen gegenüber Fotos von Kindern und auf dem Fußboden Kinderspielzeug - im anderen Raum noch mehr Holz und ein Weihnachtsbaum. Er wohne hier allein, sagte er mir, sei ein Lampenfreak und hier sei die Lampe. Er zeigte auf den kleinen Küchentisch - der Hund saß auf einem der Sessel, die an den Enden des Tisches standen und schien zu dösen. Ich schaute mir die Lampe kurz an, befand sie für gut - verhandelte über den Preis und zahlte zu viel. Das wusste ich, da er zu meinem ersten Angebot sagte: "Das ist geritzt!" Aber ich dachte mir: Warum nicht einfach mal mehr geben, als nötig? 

Er zeigte mir noch seine selbstgebastelten Holzhäuser, die er auch zum Verkauf anbot, sagte, dass Eichenholz, dass er dafür brauche, gerade nicht zu bekommen sei und gab mir noch einen weißen Hocker als Bonus mit. Ich bedankte mich und lud ihn ein, doch mal im Kulturverein vorbeizuschauen - er meinte aber, bei ihm sei im Kopf was nicht richtig, dazu kämen Ängste und so bleibe er immer Zuhause. Ich winkte und ging nach unten. 

Mit einer Hand hielt ich den Hocker, mit der anderen den Lenker meines Fahrrads, im Rucksack die blaugeschirmte Bänkerlampe...so fuhr ich wieder zurück. Ich machte einen Zwischenhalt an einem Bäcker und aß auf meinem neuen Hocker sitzend ein Stück Schokokuchen mit Puddingfüllung. Dort hielt ich auch einer Rollator-Dame die Tür auf, nachdem sie beim Bezahlen der Verkäuferin vertrauensvoll ihr Portemonnaie entgegenhielt, damit diese die passenden Münzen entnehmen könnte - denn sie konnte nichts mehr erkennen. Sie holte sich auch nur ein Stück Kuchen und ich versank kurz in diesem Bild von Einsamkeit - der alten Frau, die sich ein Stück Kuchen holt, um es in ihrer Mietskasernenwohnung zu einer Tasse Instantkaffee zu essen. Die Dame bat mich dann auch noch einmal um Hilfe vor der Treppe, die zu dem Bäcker führte. Ich hob ihren mit Einkäufen beladenen Rollator die beiden Stufen herunter und wünschte ihr einen "schönen Tag noch"

Nach dieser Episode rollte ich weiter durch die Straßen, über die schlammigen Wege des Parks und stoppte an einer Ampel, die am Ende des Waldes die sichere Überquerung der Straße ermöglichte. Die zu überquerende Straße war leicht erhöht und ich stand mit dem Fahrrad auf einer Schräge. Die Ampel wurde grün und ich nahm Schwung um die Anhöhe zur Straße zu überqueren. Doch es reichte nicht aus, nicht mal, um das Fahrrad überhaupt zu bewegen und so zog mich die Schwerkraft nach hinten. Ich stürzte im Stehen und landete auf dem Rücken - eine besorgte Großmutter mit ihrem Enkel im Kinderwagen, fragte mich, ob ich Hilfe brauchte, ein Jogger hielt kurz an, aber als ichauf dem Boden liegend und mit dem Blick gen Himmel beiden sagte: "Nein nein, mir geht's gut." lief der Läufer weiter. Sie blieb noch kurz stehen, nahm aber die nächste Grünphase wahr, als ich meinte, dass nur etwas in meinem Rucksack zerbrochen sei, sagte "Das haben wir gehört" und überquerte die Straße, dabei sah sie sich noch ein paar mal um. Ich stand inzwischen wieder, schaute kurz zu ihr herüber, nickte passiv aggressiv und blickte dann in meinen Rucksack. 

Natürlich war der blaue Lampenschirm zerbrochen. Ich konnte es nicht glauben, das Geld, die gute Tat, alles umsonst. Dies wurde mir vollkommen bewusst, als ich Zuhause angekommen, auch den Rest der Lampe betrachtete: Meine Vision, dass ich mit Spezialkleber den Lampenschirm wieder zusammengeschustert bekomme und die mich vollkommen ungeduldig den Rest der Strecke zurücklegen ließ, verwehte in der Abendluft, denn auch das Gestell der Lampe war verbogen und teilweise zebrochen. 

Ich entsorgte alles im Müll, erfüllt von einem Gefühl der Sinnlosigkeit die in der Tatsache liegt, dass eine Idee, ein Besitz von einem auf den anderen Moment durch die Gesetze der Schwerkraft zerbrechen kann, schämte mich gegenüber dem Verkäufer, tröstete mich aber damit, dass zumindest er was von dem Geld hat. Er könnte sich jetzt Eichenholz kaufen. 

Und ich weiß jetzt: die Welt ist nicht gerecht, aber das ist okay.

TV

PS: am selben Abend kaufte ich eine weitere Lampe, nur eine Straße von der ersten entfernt. Ich forderte das Schicksal hinaus, fuhr die selbe Strecke doch stürzte diesmal nicht.

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