Und schon wieder gesoffen und dann nochmal. Seit ich das letztes Jahr auf der Ostseeüberquerung beigebracht bekam, vertrag ich wieder mehr. Wie es geht? Den kühlen Saft einfach immer weiter in die Kehle schütten und ganz in dieser Aufgabe aufgehen. Die Zeit verändert dann ihre Form - es fiel mir schon in früheren Trinkereien auf - da wurde bis zu acht, neun Stunden, manchmal auch mehr nichts anderes gemacht als an einem Tresen zu sitzen und zu trinken und zu reden und aufs Klo zu gehen. Und ich weiß nicht, wann ich sonst so lange einer Tätigkeit am Stück nachging. Es handelt sich hierbei ja auch nicht um eine Sache wie einen Umzugstransport von Leipzig nach Bremen durchzuführen oder ein Buch zu schreiben, also etwas, dass auch danach noch einen Wert hat. Nein, das Wunder der Säfte, dass Wunder der Leichtigkeit, Beredsamkeit und Gesellschaftsfreude besteht nur für den Moment des Trinkens, der dann gedehnt wird - um ewig zu bleiben.
Wie immer hoffte ich auch in den letzten Wochen das alles hinter mir zu lassen, sagte mir, dies ist das letzte Mal, während ich ein wenig Dreck vom Gehweg fegte und dann mit der geliehenen Spaltaxt durch das Viertel fuhr. Ich brachte sie an ihren angestammten Ort zurück, denn scheinbar geht der Winter gerade vorbei und ausreichend Holz ist gespalten worden.
Die gesellschaftliche Vereinbarung lautet ja, dass, wenn ich eine Axt in den Händen halte, ich meinem Gegenüber zumindest nicht ohne Grund, den Schädel einschlage oder das Schienenbein zerhacke. Trotzdem nahm ich den Blicken und Körperhaltungen der mir gegenüber stehenden Menschen eine gewisse Vorsicht wahr, als ich mit der Axt den Raum betrat. Das sind die seit Jahrhunderten einprogrammierten Vorsichtsmaßnahmen oder kollektiv gespeicherte Bilder aus Horrorfilmen, die da geweckt werden und Zweifel an den Intentionen der Äxtin oder des Äxters erzeugen.
Auf den Straßen übrigens wurde die schwingende Axt in meiner Hand weniger wahrgenommen. Nur als ich mit dem Fahrrad an einer Gruppe professioneller Umzugshelfer, die gerade eine Rauchpause abhielten (eine sogenannte "fünf") sagte einer von ihnen in meine Richtung deutend: "Ach kuck mal, der fährt grad zur Bank." Ich hob im vorbeifahren sympathisierend die Axt und überlegte, dass ich seine Idee in die Tat umsetzen könnte, meinem Leben eine andere Richtung geben. Was wäre passiert?
Ich hätte die Sparkasse betreten, in der ich mich vor zwei Wochen an der Schiebetür in einen indianischen Geist verwandelt habe, wäre an den Tresen gegangen. Bis zu diesem Moment hätten wenige Leute den unscheinbaren Geist bemerkt, der da mit einer Axt durch die Filiale schritt, denn die Körper sind auf die Automaten gerichtet mit dem Ziel Geld zu bekommen oder das Geld jemand anderem zu überweisen. Dann hätte ich zu dem Mitarbeiter mit dem grauen Fleck in der blonden Kurzhaarfrisur gesagt: "Ich möchte bitte all ihr Geld." - schon dabei hätte ich gelacht und die Aktion hätte ihren Abbruch gefunden.
Die Polizei wäre trotzdem gekommen, irgendwer hätte mich bis dahin am Verlassen der Filiale abgehalten und bei der Befragung hätte ich erzählt, dass ich meinen Leben eine neue Richtung geben wollte, dass es mir um Selbstermächtigung ging, dass diese Axt mein Dasein bestimmt. Ich hätte mich im Anschluß in eine Untersuchung begeben müssen, hätte zwischendurch mindestens zweimal geweint, weil ich die verängstigten Gesichter der Angestellten und Kunden der Bank nicht mehr aus dem Kopf gekriegt hätte, der untersuchende Arzt hätte keine Auffälligkeiten festgestellt und im darauf folgenden Prozess wäre ich mit einer Geldstrafe abgemahnt worden, den Gesellschaftsvertrag zukünftig bitte genauer einzuhalten.
Am Ende durfte ich noch etwas sagen und verkündete:
Lieber gehe ich an meiner Sensibilität zu Grunde, als an der Gesellschaft abzustumpfen.
Wie meine Axt.
TV
als an der Gesellschaft abzustumpfen… wie meine Axt 🪓 ✨ :) sehr gut
AntwortenLöschen