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Einen Schmetterling in den Klub tragen


Letztens am Tage in einer Bar. Einige leere Getränkekästen standen auf dem abgewetzen Holzfußboden, der im Sonnenlicht, dass milchig durch den bedeckten Himmel fällt, so alt aus sieht wie er ist. Und wer im Raum steht und den Blick in seine Richtung senkt, merkt die Zeit an sich kratzen. Ein LKW fuhr vor und alle Menschen im Raum beteilgten sich daran, die Kisten in den leeren Laderaum zu packen. Er wurde immer voller und einer sah es als seine Aufgabe an, die Koordination der Stapelung zu übernehmen, damit Platz für neue Flüssigkeit geschaffen werden kann, die dann wieder ausgetrunken wird und als Urin in den Toiletten landet. 

Toiletten sind etwas alltägliches. Geduldig nehmen sie alles auf, was in sie hereingeschüttet wird. Man kann dem Irrglauben erliegen, dass was in die eigene Toilette gelangt für immer verschwindet, aber es fließt mit allen anderen Toiletteninhalten zusammen zu einem großen Haufen. Aus dem wiederum wird im besten Fall Energie gewonnen. Und trotzdem erliegen Menschen wie ich gern dem Glauben, dass etwas aus ihrer Welt verschwindet, wenn sie es herunterspülen. 

Der Ursprung dieses Gedanken kam mir, als ich letztens beherzt Kisten von überflüssigen Dingen befreite und diese zu den Mülltonnen brachte. Übeflüssige Dinge sind in diesem Zusammenhang alte Notizen, CD-Rohlinge, Kontoauszüge und der letzte Fetzen meines Slayer-Shirts. Den Fetzen habe ich aber feierlich zerrissen. An der Tonne angelangt sah ich den Akt des Schüttens als Befreiung an. Im gleichen Moment wurde mir aber bewusst, dass die Dinge lediglich aus meiner Behausung heraus sind und dann von Müllentsorgern aus der Stadt heraus gebracht werden. Zu einer der Deponien, die aussehen wie grüne Hügel und in denen man gemeinsam mit seinem LKW gewogen wird, wenn man persönlich hinfährt um Dinge abzugeben, die nicht ins WC oder die Mülltonne passen. 

Meine Welt ist klein. Das dachte ich auch, als ich las, dass russische Dissidenten heute nicht mehr ins GULAG gebracht werden, sondern zum Wehrdienst auf der Insel Nowaja Semlja zwangskaserniert werden. Ich gab darauf hin in einen Routenplaner die Strecke von mir bis zu einem Ort auf Nowaja Semlja ein und schaute mir die Route an. Ich musste sehr lange auf den Minus-Button klicken um die Gesamte strecke zu überblicken. Und dabei kommt mir der Weg zur Kaufhalle schon manchmal unendlich vor. Wahrnehmung ist subjektiv und man nimmt die Entfernungen relativ zu den Strecken war, die man im Alltag zurücklegt. 

Zurück in der Bar. Im Kasteneinladungs-Gewusel saß ein kahlköpfiger Mann am Tresen und spielte auf einer sehr kleinen Gitarre ein Lied. Er begann zu singen und fragte sein Publikum, dass gar nicht bemerkte, eines zu sein, singend, was es tun würde, wenn der Supermarkt kein Essen mehr hat und wenn aus dem Wasserhahn kein Wasser mehr kommt. Und ich, der Teil des Gewusels war, fühlte mich beklommen und angesprochen. Und sagte zu mir selbst, dass ich nicht wüsste, woher ich Wasser und Nahrung bekommen sollte, wenn das von dem Mann besungene eintreten würde. Ich fühlte mich etwas hilflos und schaute mir die passionierten Kistenstapler an, zu denen ich auch gehörte und begriff, dass wir alle dankbar dieser überschaubaren Aufgabe nachgingen und keiner von uns wüsste, was denn im Ernstfall zu tun sei. 

Wir wären ahnungsloses Vieh, dass auf die Hilfe von erfahrenen Überlebenskünstlern angewiesen wäre. Ich ging davon aus, dass der Sänger so einer war, denn sein Tonfall war spöttisch, aber auch gnädig. Er würde uns helfen, dafür aber auch Gegenleistungen verlangen. Körperliche? Ich habe in Filmen gesehen, dass man Regen und Flusswasser filtern kann. Eine Anleitung dafür müsste ich aber im Internet heraussuchen und ich habe es bis heute nicht getan. Dafür habe ich die Kisten alle koordiniert in den Laderaum verstaut und dann bin ich 3 Kilometer zu einem anderen Ort gefahren. Meine kleine Welt.

Einige Tage später entdeckte ich ein Tagpfauenauge, dass mit zusammengefalteten Flügeln vor einem Fenster saß, dass geöffnet war, um irgendeinen Geruch nach draußen zu kriegen. Wahrscheinlich hat sich dieser Schmetterling aus der Kälte in einen etwas wärmeren Hausflur gerettet. Die Spinnen machen es zu dieser Jahreszeit auch so. Ich schloß das Fenster. Nach 3 Tagen kam ich dort wieder vorbei und das das Tier lag nun mit geöffneten Flügeln und verstaubt auf dem Fußboden. Ich ging vorbei und wollte es nicht stören. Tiere sind empfindlich. 

Nach weiteren 2 Tagen aber dachte ich mir, jetzt müsse ich ihm helfen und nahm den Schmetterling, der seine Flügel inzwischen wieder zusammengefaltet hatte zwischen Daumen und Zeigefinger und trug ihn in die belebteren und damit wärmeren Teile des Hauses. Einen Tag darauf fand in diesem belebteren Teil ein lautes Fest statt und ich dachte, während ich im Bett lag daran, wie es dem Tagpfauenauge wohl geht zwischen den feiernden Menschen, dem Rauch und den Vibrationen, ausgelöst durch die Musik. 

Bevor ich einschlief, sagte ich mir, er sitzt sicher in einer Ecke und singt das Lied über die leeren Supermärkte und Wasserleitungen. Und wenn der nächste graue Morgen anbricht und ein Stück Licht auf die letzten Leichen splittert, fliegt er durch den Lichtsplitter und beschert ihnen eine Anblick natürlicher Schönheit bevor sie, wie Müll aus dem Laden gekehrt werden. Um Platz zu machen für andere oder sich selbst als andere, wenn sie gelockt von Substanz und Sozialität mit Einbruch der Dunkelheit wieder erwachen.

TV

Kommentare

  1. ich kenne die BAr.. ich kenne die Leute... ich kenne dieses Lied... wenn ich alleine mit meiner Geige bin, dann spiele ich es manchmal.. ich scheue mich das in der Öffentlichkeit zu tun.. naja auf der Straße schon... ... geh endlich arbeiten Du faule Sau.. ist der beigeflüsterte Text des Publikums.. manchmal .. nicht immer.
    ich schaue in die Kerze.. huste.. Raucherkneipen sollte ich meiden sagt das ich.... aber das andere ich lacht nur und gröhlt.. Paaaaaaaarty...
    ich blase die Kerze aus und hoffe auf Schlaf.. gute Nacht

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  2. Das eine und das andere ich, die zwei Seiten der Medaille. Geigespielen ist auch Arbeit. Oder?

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