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Becketts halber Schädel gehäutet

Es gibt Momente, da überschreitet die Intensität von Wahrnehmung das normale Maß:

Los ging es damit, dass ich im Bett lag und jemand zärtlich das Haar an meinem Hinterkopf berührte. Mir war bewusst, dass niemand im Raum sein konnte und ich fragte in den Raum, wer da ist, ob es ein Geist ist. Und da antwortete jemand mit unverständlich tiefen Lauten, die ich aber doch als Sprache wahrnahm. Ich fragte aus einem mir unbekannten Mut heraus diese Stimme, was sie von mir wolle. Und die Stimme sagte mir, dass sie mein Leben haben wolle. Mir wurde klar, dass es sich um einen Dämon oder Geist handeln musste. Erst dachte ich, es wäre meine verstorbene Großtante, die Kontakt zu mir sucht, aber als das Wesen begann an mir zu ziehen und zu zurren, dachte ich, dass ich es mit etwas bösen oder zumindest mir nicht wohlgesonnenem zu tun habe. Und meine Großtante war mir immer sehr wohl gesonnen. 

Das Wesen wollte also mein Leben oder zumindest meine  Körper und warf mich in eine Leere durch die ich endlos fiel. Ich erinnere mich, dass ich in Welten geworfen wurde, die mir Angst machten. Eine davon war ein leerstehender Zoo bzw. der Forschungsbereich eines Zoos in dem graue Affen lauerten, die für militärische Zwecke gezüchtet wurden. Sie jagten mich in einem Rudel und mit Pfeilwaffen bestückt durch das Gebäude und ich rannte aus dem Keller die Stockwerke nach oben und schloss Türen und Gittervorrichtungen hinter, obwohl ich gleichzeitig wusste, dass die Affen diese garantiert öffnen können. Pendelnd zwischen diesen Welten und meinem Bett, krampfhaft versuchend mich den Griffen des Dämons zu entreißen und meine Augen zu öffnen, forderte ich ihn auf, in seine Welt zurückzukehren. 

Mein Körper krampfte sich zusammen, ich zitterte und fand mich plötzlich an der Straßenbahnhaltestelle vor dem Wohnhaus meiner Kindheit wieder. In der Hand hatte ich zwei 20-Cent Stück, ein 50-Cent Stück und jede Menge 1-, 2- und einige 5-Cent Stücke. Ich warf diese Münzen in den Automaten, der mir ein Ticket gab. Ich bekam als Wechselgeld genau die kleinzahligen Münzen zurück, die ich loswerden wollte. Dann kam die Straßenbahn, die mich stadteinwärts bringen sollte. Der letzte Waggon war sehr alt, hatte die beige und rote Lackierung, wie sie in meiner frühen Kindheit üblich war. Der Waggon war sehr voll. Voll von vorrangig alten Menschen. Ich kam nicht hinein und erst nachdem der Fahrer die Insassen und Zusteigenden ermahnte, dass die Fahrt jetzt fortgesetzt würde, schaffte auch ich es gemeinsam mit einem grau gekleideten Gehbehinderten Menschen, der meine Hilfe nicht annehmen wollte durch die hintere der drei Türen ins Innere. 

Von meiner Position aus konnte ich den alle Mitfahrenden sehen. In der Mitte stand ein alter Mann vor einem ungefähr 2,50 Meter langen unförmigen Etwas, das in schwarzen Stoff gehüllt war. Meinen Blick registrierend meinte er, dass das seine Liebste sei. Hinter ihm am Fenster sah ich meine Großmutter neben meiner verstorbenen Urgroßmutter sitzen. Dieser Tatsache gewahr werdend hörte ich aus dem vorderen Bereich jemanden etwas biblischer Proklamieren. In einem aggressiven Ton verbreitete ein Mann ungefragt Weisheiten aus der heiligen Schrift. Die Insassen des Waggons versuchten verängstigt wegzuhören. Ich rief erneut aus einem mir unbekannten Mut diesem Mann entgegen: "Scheiss Kirche." Worauf hin er kurz inne hielt und mir entgegnete: "Sohn, so lang du deine Aufgabe nicht erledigt hast, wirst du verweilen und als Bockwurst im Arsch einer alten Frau enden." Ich fühlte mich provoziert und stieg über die Menschen und das schwarze Bündel bis vor zu dem Mann. 

Aus näherer Sicht musste ich feststellen, dass er Samuel Beckett, so wie ich ihn von Fotografien kannte sehr ähnelte. Ein hageres, scharf geschnittenes Gesicht graues an den Seiten rasiertes und oben etwas längeres Haar. Ich setzte mich dem Mann gegenüber. Er trug einen braunen Wildledermantel und darunter einen Anzug, der zwischen dunklem Rot und schwarz changierte. Er begann mir nun zu erzählen, dass er schon sehr lange unter einem streuenden Tumor in seiner linken Hirnhälfte Leide, große Schmerzen habe und jede Nacht mit der Angst einschläft, am nächsten Morgen halbseitig gelähmt zu erwachen. Als er dies sagte, bemerkte ich, dass seine linke Gesichtshälfte tatsächlich etwas schlaff herunter hing. Ebenfalls stellte ich fest, dass seine Schädel auf der linken Seite von der Schläfe über die Ohren bis zum Hinterkopf wirkte, als sei er gehäutet, nicht blutend sondern Wund-Nässend. 

Der Mann erzählte mir weiterhin, dass das Schicksal die Tumor-Erkrankten, die im Leben Gutes taten verschone und nur die bösen in den Tot schickte. Er berichtete daraufhin von Statistiken aus denen hervor ging, dass an Hirntumoren erkrankte Nazi-Größen immer starben und er sich an die Hoffnung klammere verschont zu werden. Ich meinte, dass ja seit Wolfgang Herrendorfs "Arbeit und Struktur" klar sei, dass selbst der rationalste Geist im Angesicht einer ausweglosen Diagnose beginnt zu hoffen. Ich stellte fest, dass sein aggressives Religionsgefasel nur der Versuch einer Kontaktaufnahme war und merkte mir vor, in Zukunft aggressives Verhalten nicht gleich abzuwehren. Es verging ein kurzer Moment der Stille in dem wir uns, den eigenen Gedanken nachgehend ansahen. Dann fragte er mich, ob man auch in den Himmel käme, wenn die eigene Katze schon tot sei. Ich erwiderte, dass die tote Katze ja auf einen warten könnte und stellte mir vor, wie mein Kater Wassilly, der noch lebt, vor mir durch eine weiße Weite läuft und mich an ein Tor bringt. 

Der vermeintliche Beckett bemerkte, dass Nubis da anderer Meinung sei. In dem Moment wurde mir bewusst, dass außer mir und Beckett jeder Insasse einen bereits verstorbenen Begleiter zur Seite hatte. Wir befanden uns in einer Bahn der Linie 0 ins Jenseits. Wo auf der Strecke meine Großmutter, Beckett und ich dann ausgestiegen sind, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber meine Aufgabe, wie der vermeintliche Beckett es sagte, scheint wohl noch nicht erledigt.

TV.

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