Ich bin erstaunt, wie empfindlich ich reagiere, wenn ich beim Müll sortieren und einstampfen einen kleinen Vogel im Schnee entdecke. Er saß da, sie saß da, denn ich erkannte das Tier als eine junge Taube. Ziemlich aufgeplustert mit nervösen Kopfbewegungen hin und her schauend und mit ein paar ganz feinen kleinen gelben Federn über dem ansonsten dichten grauen Kleid. Ob das Tier wohl auf seine Mutter wartete oder verstoßen wurde? Ich blieb stehen und betrachtete im Wechsel das Tier und die Regungen in meinem Inneren. Der Anblick bohrte sich in mein Emotionszentrum und rief ein Mitleid hervor.
Aber ich tat nichts. Ich habe bisher nur einmal einen Vogel gerettet und seit dem glaube ich, dass es besser ist, mich nicht in den Lauf der Natur einzumischen und Gott zu spielen und zum Beispiel diese Taube zu "retten".
Was hätte das in diesem Fall bedeutet? Hätte ich sie in einen Karton packen und füttern sollen? Hätte sie das mit sich machen lassen? Erst kürzlich las ich in der sehr guten Novelle "Wir töten Stella" von Marlen Haushofer, dass Jungvögel nur Hochgewürgtes aus den Schnäbeln ihrer Mutter essen, man also nicht wirklich was machen könne, wenn man so einen findet. In der Geschichte geht es dann auch nicht um Vögel sondern darum, wie ein Mädchen von einer Familie, die sie aufnimmt und deren Oberhaupt/Vater eine Affäre mit ihr beginnt, in den Selbstmord getrieben wird. Eifersucht, Missgunst und als ergänzendes Bild dieser kleine Vogel...der mir dann in etwas veränderter Form im echten Leben im Müll begegnete.
Unter einem Müllsack fand ich auch drei Regenwürmer, deren Existenz mir bei den vorherrschenden kalten Temperaturen ein wenig suspekt vorkam. Sie haben sich dann auch ganz schön gewunden, als ich ihnen den Müllsack wegnahm und sie der kalten Eissonne preisgab. Es schien mir, als wünden sie sich vor Schmerzen. Und wie ich das jetzt hier so notiere, wird mir bewusst, dass ich die Würmer an das Taubenjunge hätte verfüttern können. Vielleicht hätte es ja geklappt.
Aber dann hätte ich gottgleich gehandelt und irgendwas hielt mich davon ab. Es fiel mir ja auch jetzt erst ein und die Möglichkeit war mir in diesem Moment noch gar nicht gewahr. So winden sich jetzt drei Würmer im Eis und ein Vogelkind zittert im Schnee. Wahrscheinlich werden alle vier verenden, weil ich meinen moralischen Überlegungen über Göttlichkeit den Vortritt ließ, anstatt intuitiv zu handeln. Letztlich habe ich also doch irgendwie göttlich gehandelt. Ich bin ein gleichgültiger Gott der Würmer und Vögel.
TV.
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