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Die Uhr ist groß - Die Zeiger sind klein

Das Schreiben hatte ausgesetzt - der Zeitpunkt schien nicht zufällig gewählt. Es gab eine Wahl. Und deren Ausgang schockierte mich nicht, aber: Auch wenn das, was hier in Schriftform niedergeht häufig wirren und immer sehr spontanen Charakter hat, neige ich bei bestimmten Ereignissen dazu, innezuhalten und ein wenig Zeit vergehen zu lassen, bevor ich meinen Senf dazu auf das Internet-Brot schmiere (Senf-Brot?). 

In diesem Falle hielt und halte ich es für wenig sinnvoll, mich darüber aufzuregen oder zu schimpfen, wie es dazu kommen konnte, dass eine politische Gruppierung namens AFD (ADF ist übrigens das Kürzel für den American Dehydrated Fond, den hätte ich mir lieber gewünscht, vor allem nach durchzechten Nächten) in den Bundestag eingezogen ist. Für mich selbst halte ich das Klagen darüber für nicht sinnvoll, weil es einzig dem Ablassen persönlicher Frustrationsflüssigkeit dient. Und darauf habe ich persönlich keine Lust, bzw. sehe das als verschwendete Zeilen an. 

Mir wird gerade bewusst, dass das ein Widerspruch zu meinen sonstigen Ausführungen steht, denn die sind ja häufig in höchstem Maße persönlich und in Frust getränkt. Wie so oft: Erst wenn es die anderen machen, bemerkt man das eigene Verhalten. 

Übrigens: es ist okay, wenn das die anderen machen. Schock und Frust müssen raus. Erlaubnis erteilt.

Jedenfalls vergingen jetzt ein paar Tage, das Wetter ist schön und so unnormal verhalten sich die Menschen draußen gar nicht. Komisch. Da frage ich mich, wer hat die denn nun gewählt? Wo sind sie, die Ostdeutschen? Ich lebe doch mitten unter ihnen. Ich bin einer von ihnen und ich habe eine anderen Partei meine Stimme gegeben. Schenkt man den Artikeln Glauben, die veröffentlicht wurden, sind es doch die Ostdeutschen, die Schuld an dem Debakel haben. 

Ich finde, zwischen all dem Schock und Wehklagen, ob des Wahlergebnisses, die sich daraus entwickelnden Probleme und Prozesse in hohem Maße interessant. Und interessante Probleme sind gute Probleme. 

Die Schuld wird jetzt dem Ostdeutschen gegeben - auf einmal ist er wieder da. Der Ostdeutsche - der angsterfüllte, skeptische aber hörige Typus Bürger, der die Demokratie versaut hat. In diesem guten Artikel spricht man sogar von der späten Rache des selben. Denn der O. wurde mit der Wende verarscht und bekam im Laufe der Jahre nicht das Gefühl, dass sich an dieser Behandlung etwas änderte und gelernt hat er es auch nicht, wie Demokratie geht, kommt ER doch aus einer repressiven Staatsform. Laut den Statistiken, welche zumindest ich nicht ganz durchdringen konnte, ist es ja der ostdeutsche Mann zw. 50 und 60, der die Schuld trägt.

Ich habe da so meine Zweifel, bzw. denke ich: Ist es wirklich so einfach? Reicht es, wenn etwas komplexes geschieht, schnell nach jemandem zu suchen, der man am besten nicht selbst ist und ihm oder ihr die Schuld an einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu geben? Es reicht nicht. Und außerdem machen das ja die anderen (siehe oben).

Die Zeiten sind hart, das weiß ich. Die Zeiten sind hart, weil es uns, die wir hier leben können gut geht. Gut gehen bedeutet: Frieden, Nahrung, Internet, Kultur und epische Herbsttage mit goldenem Laub und blauem Himmel, der einem die Tränen der Melancholie in die Augen treibt. 

Uns geht es so gut, dass wir in Anbetracht der chaotischen Weltlage begonnen haben unsere Lage mehr schätzen zu lernen. Und wer etwas schätzt, gewinnt etwas lieb und wer etwas lieb gewinnt, erhebt Anspruch darauf und wer Anspruch auf etwas erhebt, kriegt Angst, wenn jemand kommt und auch etwas davon will. Man nennt diese Angst VERLUSTANGST. Da vergeht mir glatt die Lust. Und Lust ist doch so wichtig.

Dazu zwei Dinge: erstens: wenn jemand dazu kommt, wächst die Gesamtheit, die Diversität wächst. Zweitens: wenn jemand dazu kommt, verändern sich Zusammenhänge. Sie/er will etwas haben, nimmt sich etwas, gibt etwas. Das kann jeder sehen. Und ja, die Dinge verändern sich nicht nur zum Guten, sondern es entstehen Probleme. Vor denen kann man Angst haben. 

Ich habe zum Beispiel Angst, wenn ich vor einem Song sitze und da noch ein Akkord oder 4 Worte fehlen und ich dann welche hinein packe. "Die passen doch gar nicht", denke ich dann, "Wie soll das jemals was werden". Dann vergeht etwas Zeit, das Wehklagen weicht einem verbissenen Gleichmut und etwas Fleiß (huch, wo kommt der denn her?) und schon passiert etwas. Der Akkord begibt sich in Kontakt mit den bereits vorhandenen Tönen und die Worte verbinden sich mit denen, die bereits da stehen und gehen darin auf. Man nennt es Veränderung. 

Worte und Töne sind keine Menschen, ich weiß, aber es ist das selbe Prinzip...wenn sich Systeme verändern, brauchen sie Zeit, es entstehen Spannungen und dann auch wieder Entspannungen. Es ist also ratsam, sich etwas zu gedulden. In die Lücke der Spannungen springen allerdings Gruppierungen hinein und nutzen die aus der Spannung entstehenden Ängste der Menschen aus, um an Macht zu gewinnen. 

Wie machen sie das? 

Sie geben einfach Antworten auf komplexe Fragen. 

Funktioniert das? 

Nein. 

Es gibt keine zielführenden einfachen Lösungen für komplexe Probleme. Das einzige, was funktioniert ist, den Menschen, die natürlich richtig Bock auf einfache und vor allem schnelle Lösungen haben, weil sie gerade Angst haben, weil sich Dinge unüberschaubar verändern, einfache simple Dinge zu bieten, um an Sympathie und damit Macht zu gewinnen. 

Das grenzt aber schon an Verarsche.

Und wenn der Ostdeutsche dann sagt: "Die da oben nehmen uns nicht ernst" oder wie ich seit neuestem aufschreie, wenn der Tee alle ist: "Dafür bin ICH nicht '89 auf die Straße gegangen." könnte er auch mal kurz innehalten und sich diesem kleinen Gedankenspiel hingeben:

Angenommen, die "Lösung" eines "Problems" wäre eine geschlossene Grenze. Dann kommen die Menschen, die hier her wollen trotzdem. Dann wird da ein Zaun gebaut. Die Leute kommen trotzdem. Dann wird eine Mauer gebaut. Die Leute kommen trotzdem. Dann wird da geschossen. Die Leute kommen trotzdem. Die Mauer wird höher gemacht, die Waffen schärfer und irgendwann kommen die auf der inneren Seite der Mauer nicht mehr raus. Oder? Hatten wir das nicht schon mal? 

Ich denke also, raus aus der Schockstarre, rein in die Jogginghose (wer sie nicht sowieso schon anhat) und raus in die Welt und raus aus der klagenden Haltung und die eigene Erfahrung des Verlusts und der Orientierungslosigkeit zu schätzen wissen und in das Gesamtsystem einbringen. Es gilt den  neuen Veränderungen bequem (deswegen die Jogging) und geduldig entgegen zu sehen. Klappstuhl und Bier und Kippen sind auch okay, weil: Es wird eine Weile dauern. 

Als ich vorgestern zwischen Leipzig und Halle im Zug saß, weil ich nach ewiger Zeit mit anderen Musikern proben wollte, sie in mein System ließ, was übrigens erst kompliziert war, dann aber ganz gut lief, sah ich aus dem Fenster und sah das flache Land aus dem ich stamme, es heißt Sachsen-Anhalt. Da waren Felder und kleine Baumgruppen und die standen in der erwähnten Herbstsonne. Hier und da graue Häuser, bewohnt aber auch verlassen. Hundeschule, Baumschule, Sonderschule... Und plötzlich ein warmes Gefühl gefolgt von einer Erkenntnis: 

Hier ist soviel Platz für Gedanken, für Möglichkeiten...es ist karg, es ist auch ein bisschen leer hier, etwas dreckig, etwas traurig. 

Und ich merkte, da draußen sieht es aus wie in mir. 

Und dann fühlte ich mich zu Hause.

T.

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