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Go in and out/On fire

 

Ich erwachte sehr früh mit dem Satz im Kopf: "Das Fenster bleibt zu, bis die Vögel sich beruhigt haben." Wie aufgeregt sie jeden Morgen schreien - von Singen kann da keine Rede sein. An den dunklen Tagen der Schlaflosigkeit, vor allem im Sommer, war es besonders schlimm. Denn das Geschrei signalisierte, den Beginn eines neuen Tages, den es wieder zu überstehen galt. Mit den Vögeln kam auch immer der Übergang vom Schwarz der Nacht in das Dunkel- und Hellblau des Morgens, mit ihnen die Wärme, die es schwer machte, die Bettdecke über dem Leib zu behalten. Aber, im Moment ist es anders, verdächtig in Ordnung fühlt sich das Sein an, der Körper treibt den Fluss hinab.

Und kaum traue ich mich diesen Gedanken zu formulieren, in der Angst, dass das Pendel jeden Moment wieder umschwingen kann - also ein Waldbrand im Harz zum Beispiel, der uns das Atmen schwer macht. Erst nur ein leichter Geruch von brennendem Holz über der Stadt, dann ein trüber Rauch vor der Sonne und dann pfeifen unsere Lungen wegen den Aschepartikeln in der Luft. Das Pendel schwingt aber manchmal auch nur klein und bittersüß, wenn ich eine fremde Person auf der Straße oder an der Getränkemarktkasse gut gelaunt lachen höre. Dann denke ich: "Kennst du den Klang des Lachens einer Person, kannst du ahnen wie ihr weinen klingt." Es sind ja dieselben Muskeln, die für beide Regungen zuständig sind. 

Damals in der Grundschule gab es einen Jungen,  bei dem konnte ich das gut beobachten. Durch gezielte Handlungen war es möglich ihn zum Weinen und Lachen zu bringen und dazwischen hin und her zu schalten. Auf dem Pausenhof, umgeben von einem rostigen, scharfkantigem Metallzaun, erst ein (leichter) Tritt ans Schienbein und er fing sofort an zu weinen, darauf hin ein kleiner Witz und er lachte wieder. Ich glaube mich sogar zu erinnern, diese Erkenntnis gewonnen zu haben, weil ich in dem Moment Angst hatte, durch meinen Tritt und sein Weinen, Ärger von einer der Hortnerinnen zu bekommen und versuchte einfach mit einem Witz, seine Tränenfluss zum Stoppen zu bringen. Es funktionierte. 

Und dann probierte ich es nochmal und nochmal. Vollkommen euphorisiert steigerten wir die Frequenz unseres Spiels, bis ich scheinbar so stark zu trat, dass er nicht mehr aufhörte zu heulen. Ich rettete mich aus der Situation, in dem ich ihm erlaubte, mir so stark er konnte in den Hintern zu treten. Es funktionierte. Und ich kam Straffrei davon. Schulhofpolitics...Ich weinte natürlich nicht. Habe ich bei Schmerzen in der Schule, soweit ich mich erinnern kann, nie gemacht. Nur bei traurigen Filmen oder Ereignissen, rollten die Tränen auch dem kalten Fisch übers Gesicht. 

Bei den Vögeln vor dem Fenster ist es ja ähnlich, so wie sie Schreien, singen sie später auch. Nur die Krähen, die klingen immer gleich. Das trockene Krachen ihrer Töne unterscheidet sich stark von der Hysterie ihrer Gattungsgenossen. Und als ich später das Fenster öffnete und hinaus sah, entdeckte ich im Baum vor dem Haus ein Nest. Ein Krähennest, wodurch plötzlich auch klar wurde, warum in den letzten Wochen jeden Morgen das Krächzen zu hören war  - nicht etwas als Vorbote drohenden Unheils, nein das waren die Rufe der Eltern und Kinder. Und ich sah Bewegungen zwischen den Blättern, ein rundes Gebilde aus Ästen und hörte heisere fordernde Laute. 

Ein wenig Verwunderung schwang in meinen Beobachtungen mit, denn Nestbau und Fürsorge passten für mich überhaupt nicht zu den Krähenvögeln. Ich stellte mir vor, da sie ja sehr intelligent sein sollen, dass sie in modernen Vorstadt-Häusern leben würden und die Küken, die Krähenküken in Kindergärten, Kükenbetreuungsstationen aufgezogen würden. Und da würden sie dann Kükenpolitics lernen, in dem sie sich gegenseitig mit dem Schnabel behacken und lernen den traurigen Krächz vom lachenden zu unterscheiden.

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