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Oh Dohle Mio/La Vie En Gris


Vor dem Fenster wippen zwei Krähen auf den Ästen des Ahornbaums. Eine sagt "Krah", die andere schweigt und sondert Kot ab. Ich stehe in der drittten Etage eines Treppenhaus in dem ich seit ein paar Tagen ein kleines Stück grünes Papier liegen sah. Ich weiß, dass es eins aus einer Zigarettenpapierschachtel ist und anzeigt, dass die Packung bald zur Neige geht. Und ich frage mich, wie wohl die Fachbezeichnung für diese Papiere lautet, ich nenne sie jetzt mal "Endpapiere" und vor allem warum diese Papiere nicht zum Rauchen geeignet sind. Eine Stilfrage? Raucht es sich nicht gut in grün? 

Ich halte das Papier in der Hand und schaue in der Mitte des Treppenhauses nach unten. Die dunklen Holzgeländer formen mehrere ungleichschenklige Dreiecke die sich verjüngen und in einem Fliesenboden enden. Aus meinen Fingern gleitet das Endpapier nach unten dreht sich sehr schnell um seine horizontale Achse während es herabfällt. Zu meinem Erstaunen fliegt es ziemlich gut und macht vor der letzten Etage sogar noch ein kleines Kunststück in dem mit einem Salto durch die Sprossen des Geländers gleitet. Dann landet es irgendwo außerhalb meines Blickfelds und ich stelle fest, das ich ganz in dem Moment dieses Flugs war. 

Nur Beobachter, kein Denker, nicht davor, nicht dahinter sondern nur darin. Selten. 

Mein letzter Versuch dies zu tun fand zur Wintersonnenwende auf einem Hügel statt, den ich in der Nacht erklomm mit dem Wunsch der Natur nahe zu sein. Entkleidet stand ich auf moosigen Felsen und atmete zehn mal tief ein und aus, etwas entfernt die Lichter und das Rauschen einer Industrieanlage. Trotz der die Situation dominierenden Kälte und Dunkelheit musste ich einige Anstrengung aufwenden in diesem Moment zu bleiben und nicht an zukünftige Aufgaben oder vergangene Missetaten zu denken. Beim Abstieg fiel ich dann über Wurzeln und rollte ein Stück den Hang hinab, was es mir durch Desorientierung und das Spüren meines Skeletts auf dem harten Boden leichter machte wieder den Moment zu spüren. 

Am nächsten Morgen bemerkte ich Schlammspuren auf meiner Hose und fürchtete in einer Mischung aus Aberglaube und Horrorfilmwissen, dass Dämonen in mich eingefahren wären. Doch gerade jetzt stellte ich (erleichtert) fest, dass die vermeintliche Wintersonnenwende nur die Walpurgisnacht war und ich auch gar kein Ritual vollzogen habe, außer zehn mal tief ein und auszuatmen und danach den Hügel hinunter zu stolpern. 

Aber ein Traum in einer der folgenden Nächte war durchaus bemerkenswert genug ihn mit dem Ereignissen auf dem Hügel in Zusammenhang zu bringen. Ich war darin der Kommunikaitonsverantwortliche einer kleinen Einheit aus Soldaten und Computernerds. Die Einheit bezog verdeckt Quartier in einer kleinen Holzhütte auf einem verlassenen Agrarbetriebsgelände in Sachsen-Anhalt, von wo aus sie die Netzwerkstruktur des Feindes stören sollte. Der Feind war die russische Armee, die bereits bis zur Grenze zwischen Polen und Deutschland vorgestoßen war und kurz davor war Sachsen einzunehmen. 

Die zwei "Hacker", eine junge Frau in einer blauen Bluse und ein Mann in einem chrom-regenbogenfarbenen Pullover richteten sich auf dem Dachboden der Hütte ihre Computer zurecht. Bei ihnen war auch ein älterer Professor, wenn ich mich richtig erinnere. Der militärische Teil der Einheit bestand aus 10 Soldaten, die dafür zuständig waren das Gelände möglichst unbelebt aussehen zu lassen und zu bewachen. Jeweils zwei von ihnen lagen in einem Gebüsch am ehemaligen Werkstor und standen in Funkkontakt zu mir und den anderen, die sich hinter den zugenagelten Fenstern der Hütte aufhielten. Dort brannte Holz in einem Dauerbrandofen und ich sagte dem befehlshabenden Unteroffizier, dass er gern in diesem Raum das Nachtlager für seine Männer einrichten kann. Er schenkte mir dankende Blicke. 

Dann wachte ich in einem Bett auf und mein weißer Kater umarmte mich kurz bevor er sich ans Fußende legte. Neben mir im Bett lag noch ein Hund, der begann mit mir zu sprechen. In einer Art Patois bedankte er sich bei mir, dass er hier nächtigen durfte. Ich empfand dabei ein tiefes Gefühl von Erfüllung, da ich hier scheinbar einer der (tierischen) Gesellschaft dienenden Sache positiv nachkommen konnte. 

Ich danke dem Hügel, dass er mir diesen Traum bescherte und bin gespannt, was die Zukunft für mich bereithält: Tierpfleger, Militär-Kommunikator oder Zigarettenpapierfabrikant.


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