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Narbenwetter/Das letzte Ende

Beim Trinken mach ich's wie der Mond
Einmal im Monat bin ich voll
Dann zieh' ich das Ironie-Shirt an
Und mal den Teufel an die Wand


S und ich gingen durch den Wald und loteten die Untiefen des Herzens aus. Wir hielten uns auf den Hauptwegen und bogen dann auf den Komposthof. Da lag gemähtes Gras, ich sagte auch kurz "mäh" als wir die Haufen umrundeten und S sprach von Dinosaurierscheiße und ich meinte, dass sind dampfende Büffel, die sich erst in der Nacht aus dem Boden erheben und da hinten, dass sei eine riesige haarige Ghibli-Raupe, die schläft. Danach kurze aber angenehme Desorientierung, in welche Richtung wir jetzt weiter gehen (müssen) - ich führte das auf die mehrmalige Umrundung der Büffel zurück. 

Als wir uns dann später an einer Straßenecke verabschiedeten, hatte ich eine meiner im Nachhinein witzigen Gestenverwirrungen: S hielt mir seine rechte Hand mit der Handfläche nach oben hin, was für mich aussah als sollte ich da irgendwas rein legen, als ob er bezahlt werden will. Ich strich ganz leicht darüber, so eine Art Inka-Handschlag, er meinte nur nein, dann umarmte ich ihn, die Verwirrung stieg und er sagte, ich solle doch einfach nur das Malerband, dass um sein Handgelenk hing nehmen. Ich war schon wieder voll in meinem Verabschiedungsritual-Angst-Modus. Am liebsten würde ich den Menschen einfach nur "Tschüss" sagen. Manche wollen Umarmung, manche den Handschlag. Ich nur ein Wort. Aber meistens lasse ich mich dann doch auf die Rituale ein. Man soll ja offen bleiben.

So war es schon immer, eine Konstante in meinem Leben. Und das führt mich zu einem Gedanken, den ich vor einigen Wochen auf dem Fahrrad hatte: der gleichförmige Verlauf meiner Entwicklung seit ich Kind bin oder auch: Bin ich jetzt der Mensch, der ich als Kind sein wollte? Der Gedanke kam auf, als mir ein Kind mit seinem Vater entgegen kam. Es schaute mich merkwürdig an, also einen Moment zu lang, das machen sie häufig (J sagte, weil ich aussehen würde wie eine Comicfigur) und da erinnerte ich mich, wie ich als Kind immer abgeranzte Rocker beobachtete mit Sonnenbrillen und eigentlich immer nur so wie die sein wollte oder so aussehen wollte: lange Haare, Jeansjacke oder Parka und immer Sonnenbrille auf und schön langsam auf den Fahrrad hin zu irgendwas mit Musik. Auch der Vater meiner Grundschulfreundin war da wohl sehr prägend, der saß nämlich in der sehr großen Altbauwohnung auf der Couch und spielte auf einer blauen Stratocaster ohne Verstärker irgendwelche Blueslicks. So lässig, ohne Hast und ohne Ziel, flüssig im Hier und Jetzt.

Und als das Kind an mir vorbei gefahren war und ich ein Stück weit ins Jetzt zurück gelangte wurde mir bewusst, dass ich jetzt einer dieser Rocker geworden bin. Okay, ich bin in Wirklichkeit natürlich längst nicht so lässig, wie mein langes sonnenbebrilltes Gesicht vermuten lässt, denn meistens bin ich doch ziemlich aufgeregt über die nächste musikalische Begegnung und den damit verbundenen menschlichen Kontakten. Aber das weiß das Kind ja nicht. 

Und was mir bewusst wurde, war, dass es eine ziemlich gerade Linie von dem 6-Jährigen Jungen zu dem ist, der ich jetzt bin. Ich hab nicht die ganze Zeit Musik gemacht, eigentlich gar nicht so viele aktiv mit ihr zu tun gehabt, bis ich 13 war, aber glaube, dass sich meine Haltung zur Welt nicht so sehr verändert hat. Immer etwas skeptisch und fasziniert von coolen Gesten, die ich vor allem bei Musikern sah. "Cool" - das Wort habe ich auch zum ersten Mal von meinem Onkel gehört, Anfang der 90er, er brachte es die Treppe zur Wohung meiner Eltern hoch gemeinsam mit der Begrüßung "Hi" und ich fand das toll und neu. Im Laufe der Jahre musste ich übrigens mehrere Diskussionen darüber führen, dass es "Hy" geschrieben werden würde, was ich verneinte, es wird "Hi" geschrieben, Punkt. 

Nun frage ich mich aber auch, bin ich in dieser "Kleine-Jungs-Welt" stehen geblieben? Ich sage mal - Nein - denn ich bin ein Anhänger der Schicht-Theorie: Weiterentwicklung bedeutet für mich, eine weitere Schicht an Erfahrungen und Verhalten anzulegen über die, die schon da ist. So geht das vom ersten Tanz zu "Billie Jean" über erste Küsse, den Anblick des Unfalls der alten Frau die vom Betonmischer überrollt wurde und vom ersten Konzert, wo sich niemand regte bis zu dem letzten, wo sich auf einmal alle beinahe kultisch um mich herum gruppierten. Und die Schichten darunter bleiben zugänglich, wenn man sie sich merkt, 

Was für mich stets gleich geblieben ist, ist das es alles wie ein Rollenspiel wirkt, ich mal der Musiker bin oder der Berater oder eben bewusst die Jeansjacke anziehe und die Sonnenbrille auflasse, weil ich das als Kind so gesehen und für richtig befunden habe. Damit will ich nicht Verantwortung abgeben oder das was ich tue, für andere und für mich weniger ernst nehmen. Es ist die bewusste Entscheidung etwas zu sein, so wie als ich als Kind den Piloten ernsthaft gespielt habe. Das ist schon toll am Erwachsenensein, dass ich prinzipiell machen kann, was ich will. 

Jetzt bin ich ganz schön abgedriftet, draußen geht die Sonne unter. Und ich überlege, was sich wirklich verändert hat zwischen dem kleinen Jungen und mir und stelle fest: Ich hab mehr Freude daran, raus zu gehen. Als Kind war ich viel lieber drin und baute mir eigene Welten. Erst Lego, dann Modellbau, dann Musik. Heute brauche ich es, rauszugehen, ohne Ziel, einfach atmen und die Füße bewegen. 

An meinen Füßen übrigens neue Schuhe - ich hab mir zwei Größen bestellt, weil ich einen Hasenfuß habe. Also nein, der eine Fuß ist nicht größer als der andere. Beide sind merkwürdig lang, der passende Schuh findet sich eher schwer. Und als ich dann ein wenig recherchieren wollte zum Einlaufen der Schuhe, fand ich mich in einem Forum für Asperger-Betroffene wieder, sie nennen sich selbst dort "Aspis" - aber was dort stand half mir auch nicht weiter. Es wird wohl das größere Paar. 

TV

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