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Als das Gute die Geste verlor

Ich habe letzte Woche am eigenen Leib eine meiner derzeitigen Kernthesen erlebt und durchlebt: 
"Die Problematiken unserer Zeit sind komplex und kompliziert. Und sich mit ihnen auseinander zu setzen führt nicht unbedingt zum, ebenfalls in unserer Zeit stets propagierten und zwanghaft angestrebten Wohlbehagen." Ich stotterte einige Worte zum Thema "Übergriffigkeit" vor mich hin und kam zu keiner klaren Erkenntnis. Aber: nicht so schlimm. So ist es eben. Der Buna-Plastik-Buddha schaut stoisch in den Wind (Wayfarer auf der Nase, die wo der linke Bügel angebrochen und deshalb etwas flexibel ist) und versucht die Kompliziertheit anzunehmen. Dies durchlebend, schaut er sich diese Woche etwas an, von dem er vorgibt Ahnung zu haben: 

Die Geste in der Musik.

Ich wohnte einer DJ-Unterhaltung bei. Es wurde vornehmlich Material aus den 80er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gespielt. Das Material wies einen rauen Charme auf. Es waren experimentelle Kompositionen zwischen Rock und Pop zu hören. Manches dilletantisch, manches professionell gespielt. Ich stamme aus dem Punkrock der Generation irgendwas. Die 8.? Keine Ahnung. Ich spielte diese Art von Musik impulsiv, eruptiv und war fanatisch begeistert, dass man Gefühle EXTREM zum Ausdruck bringen kann. Ob man sein Instrument konnte oder nicht, spielte keine vorrangige Rolle. Es ging um die Geste. Um die Ermächtigung. Tatsächlich und hier habe ich eventuell eine etwas anders geartete Prägung, bewegte ich mich vor der Punkrock-Phase im Bereich des Thrash Metal in Form der Band Slayer und Kunst-Musik in Form der Band Melvins. 

Da ich mich in meinen ersten eigenen Kompositionen an diesen Bands orientierte, kam ich nicht umhin mir eine gewisse Präzision auf meinem Instrument, der Gitarre anzueignen. Die Auftritte im Alter von 14 Jahren waren dann auch meist geprägt von einem Publikum, dass verwirrt auf das Etwas blickte, dass da krude Tonfolgen hernieder fallen ließ und merkwürdige Texte über die Sinnlosigkeit des "Seins" von sich gab. Das Etwas hatte kurz vor Beginn des Konzertes auch probiert, seinem Auftritt mehr Kraft zu verleihen in dem es den Bassregler seines Verstärkers voll aufdrehte. Leider drehte das Etwas statt am Regler für Bass an dem für Höhen, so dass der Raum von einem schneidenden Klang erfüllt war. 

Die Gruppe, die jener des Etwas folgte hatte es nicht schwer, das Publikum für sich zu begeistern. Man lieferte soliden Rock. Dies wurde mir dann auch nach dem Auftritt nahe gelegt. Ich (Ihr habt euch sicher schon gedacht, dass das Etwas TV ist) verstand nicht, war aber beeindruckt davon, dass die Begleitung der Person, die mir das Prinzip des soliden Rock näher legen wollte, in der Lage war mit nur einer Hand zu klatschen, so dass sie allein einen Miniatur-Applaus erzeugen konnte. Hat sie natürlich nicht gemacht, als ich performierte.

Das ist jetzt so ca. 15 Jahre her. Inzwischen hat sich mein musikalisches Spektrum in erheblichem Maße erweitert. Slayer, neben Michael Jackson immer noch so was wie musikalische Muttermilch, Melvins schon eher wie der vertraute Geruch der Bettwäsche. Dank mir nahe stehender Personen kamen PJ Harvey, Bowie, Manson, Kurtz Cobain, Ian Citrus, Dead Kennedys und in den letzten Jahren auch 187, Eddie Cochran, AC/DC und EPMD und CCR dazu. Zumindest Vorvorletzt- und Letzt-Erwähnte kann man durchaus als Vertreter des soliden Rock-Handwerks bezeichnen. Und ich mag dieses Rock-Handwerk. Eine reine Kraft geht von ihm aus. 

Und irgendwie ignoriere ich die zuweilen als uncool bezeichnete Männlichkeit dieser Musik und genieße viel mehr, das sie meinen Körper zum Schwingen bringt. Und ich probiere mich daran, diese Kraft selber anzuwenden. Ich bin schon sehr gespannt darauf, ob man mir ödes Rockertum vorwerfen oder Kraftmeierei unterstellen wird, so denn ich mein eigenes Material hinaus gebe.

Jetzt stand ich also, nein ich saß in diesem Etablissement, wo Eingangs erwähnte DJs ihre Tunes in die Menge warfen. Ich vernahm einen ungelenk dahin geschrammelten Versuch von Funk, der sehr holperte und meinen Körper nicht in Schwingung versetzte. Ich bemerkte, wie ich dem DJ einen Blick zu warf, der zum Ausdruck bringen sollte: "Das ist nicht funky." Er erwiderte meine Blick, mit einem mir, so glaube ich, ähnlichem Gesichtsausdruck (Spiegeleineuronen), der sagen sollte: "Das was hier nicht funky ist, bist du." Ich hörte weiter zu, es ging in dem Song um schlaffe Männer, die beim Versuch des Beischlafs vorzeitig ejakulieren und dann einschlafen und doch gefälligst welche antreten sollten, die leisten. Ja, das war witzig und bissig von einer weiblichen Stimme vorgetragen. 

Und jetzt bemerkte ich, wie ich meine vorher genommene Wertung nicht zurück nahm, aber veränderte, neu einpegelte. Ich dachte mir: "Ah, es geht um die Geste, um die Botschaft. Dass etwas, das der Gruppe am Herzen liegt zum Ausdruck gebracht wird." 

Die Geste ist größer als das Können. Und deshalb ist es okay, wenn es nicht "funky" oder in normaler Wahrnehmung "funktionierend" gespielt ist. Ja, das ist wirklich okay. Allerdings stellte ich dann fest, das eben jenes "nicht funktionieren" für mich ein Hinderungsgrund war, dieses Lied gut zu finden. Und ich erging mich in einer inneren Reflektion darüber, ob ich meine Offenheit verloren habe. Hatte ich sie jemals? Immerhin gab es eine Zeit, in der ich der einzige Mensch war, den ich kannte, dem die Melvins was sagten und nur einer von 3 Slayer-Jüngern. (Grüße an Lucas und Falk!) oder ob ich ein Musikpolizist geworden bin oder ob sich einfach nur mein Wertesystem verschoben hat, weil ich älter geworden bin und ich keine Ideale mehr habe und mich deshalb an Werte wie "tightes" Spiel und solides Songwriting zu klammern versuche in einem letzten Versuch, irgend etwas zu hinterlassen, was nicht aus menschlichen Reproduktionsritualen erwächst sondern aus meinem Geist. 

Ich kam ja aus der Kraft der Geste, hatte dann inzwischen aber dazu gelernt musikalisch und technisch, denn meine Vorbilder und Heldinnen (Ich war in der Situation, dass ich, im Gegensatz zu anderen Individuen welche hatte und es kommen immer wieder  neue dazu.) brachten Tracks, die technisches Können voraussetzten und so stand ich da im Sitzen und fragte mich, wohin ich kriechen werde. Dann folgte ein besser gespieltes Lied ähnlicher Prägung. Das fand ich dann wieder okay oder körperlicher. Ich nahm meine Empfindungen hin und wackelte mit dem rechten Fuß. 

Es geht immer weiter, für den der nicht stehen bleibt. Und weiter gehen, heißt stolpern, bluten, lachen und wieder auf stehen. Gesten eben.

TV.

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