Direkt zum Hauptbereich

667 Days of Matthias Sammer

Ein Teil von dir
Den dein Spiegelbild nicht sieht
Deine Augen
Die Projektoren für den Film deiner Wirklichkeit
Einmal ist alles egal
Und nichts berührt dich
Ein anderes Mal kommen dir die Tränen
Wenn du nur den Rost am Lenker eines Fahrrads siehst
Unterträglich
Du möchtest sterben
Weil es so schwer erscheint
Am Leben zu sein
Ein Einkaufswagen voller Bounty-Eis
Am Meer im Sommer durch den Sand schieben
Der Ausblick ist schön - doch schmilzt
Zu einer klebrigen braunweißen Soße
Die ihren leckeren kokos-süßen Sinn schneller verloren hat
Als man sie schlingen und schlucken kann

Du begibst dich ins Internet
Und betrachtest zur Überwindung deiner Gleichgültigkeit
Bilder von Opfern des Giftgasangriffs,
Der sich an Morgen deines 30. Geburtstages ereignet hat
Eine Mischung aus Wut, Ungerechtigkeit und Trauer
Erfasst dich bei diesem Anblick
Aufgereihte tote Kinder
Ihre Kleider sind nach oben geschoben
So dass quadratische weiße Pflaster auf ihren Bauchnäbeln zu sehen sind
Ihre Münder sind geöffnet
Ihre Augen sind geschlossen
Sind sicher nach dem Tod geschlossen worden
So wie man auch ihre Glieder 
Aus den unnatürlich verrenkten Posen
Des schwindenden sich gegen das ungewollte Ende wehrenden Lebens 
In würdige Positionen brachte
Was auch den Lebenden hilft
Die Schrecken des Todes zu verdrängen
Die Beine gerade, die Arme auf dem Brustkorb verschränkt
Nur die Köpfe sind geneigt, wenden sich ab
Du drehst dich weg 
Und siehst in den Raum hinter dir

Eine Ameise, du weißt nicht, du hoffst, vielleicht eine Königin
Aber wohl eher ein Männchen, das seine Flügel verloren hat
Es läuft im Kreis um den vergoldeten Fuß einer Tischlampe
Die auf dem Fußboden steht
Sie läuft dort immer im Kreis
Sie spiegelt sich
Entfernt sich in kurvigen Bahnen
Von ihrem Abbild in Gold, bleibt für kurze Zeit stehen
Geht aber immer weiter
Vorbei an den dunklen langen Haaren einer Bekanntschaft
Einem toten Käfer
Einer Packungsbeilage für Valeron 600
Resten von Keksen
Unter dem beige-goldenen Stromkabel hindurch
Immer im Kreis
Glaubt sie, sie ist nicht allein?
Oder ist sie ein Teil des Selbst
Das sein Spiegelbild nicht zu sehen vermag?
Oder ist ihr Lichtsinnesorgan durch den Schein der Lampe
Nur stark irritiert und der Kreislauf geschieht gegen ihren Willen?
Du entschliesst dich, diesem auswegslosen Zustand ein Ende zu setzen
Und entlässt sie auf einem Stück Papier durch dein Fenster in die Nacht
Das ist auch für dich gut und gibt dir ein Gefühl von Kontrolle und Würde

Du schaust und hörst hinaus in die warme Finsternis
Das Geräusch einer Lüftungsanlage verstummt
Undefinierbar summt Musik
Männliche Stimmen führen ihr dröhnendes Lachen
An der Kante zum aggressiven Schreien entlang
Als Beweis dafür, es jederzeit mit jedem aufnehmen zu können
Ein Baukran sieht aus, wie ein leuchtendes Kreuz ohne Spitze
Im Haus gegenüber schwitzt Jesus zwischen Vorhängen aus 
Frisch gewaschenen Oberhemden über einem neuen Förderantrag
Seine Augen als Projektor
Des Films seiner Wirklichkeit
Du wendest dich ab
Bringst deine Glieder in eine würdige Position
Und siehst die Ameise
Erneut und unbeirrbar angezogen durch das Licht
Wie sie ihre Runden um die Lampe dreht
Es ist zu heiß um das Fenster zu schliessen
Soweit geht dein Mitgefühl nicht

Kommentare

  1. ich <3 you, timm.
    hier, für dich: (, weißt du noch?)
    ---
    Synchrone Fetzen von uniformierten Pseudopunks aus der Schattenwelt treffen auf MickeyMaus
    Ich blute
    Du rauschst
    Jesus rollt mit den Augen und kippt sich noch einen ein bevor er den Gong schlägt
    Es schneit
    417 Flocken
    Dann Stille
    Wir sind frei

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

#412 Atemschrei

Seit 10 Jahren kehrte er das Treppenhaus eines Buchlagers. Ein alter Plattenbau mit Stufen aus glattem Beton und definierten Winkeln und Kanten. Nicht wie die ausgetretenen Holzstufen im Nebengebäude der Tierpathologie, in der er vorher angestellt war. Den Dreck dort aus den Rissen und Fugen herauszubekommen, dauerte Stunden. Aber hier auf dem Beton fühlte es sich an wie ein Tanz, wenn er den Besen in sanften Wellen über den Boden schwang. Auf dem Weg dort hin und zurück kam er jeden Tag an einem kleinen Geschäft vorbei. Lange Zeit war es ein Imbiss, betrieben von einer Frau und einem Mann, die Filterkaffee, Cola in Dosen und zwei Sorten Flaschenbier verkauften. Dazu ganz akzeptable Pommes aus einer in die Jahre gekommen kleinen Fritteuse.  Als er sich entschloss, mit den beiden einmal mehr Worte zu wechseln, als "Eine Cola, bitte."   - "1,20" und "Stimmt so." teilte ihm die Frau mit, dass sie in zwei Wochen endgültig schließen - Rente. Beide hatten bis z...

#411 Lachwald

Die nassen Blätter der Bäume im Wald hängen tief, so tief, dass sich Silvio entscheidet, den Arm zu strecken und sie zu berühren. Eine Entscheidung bewusst treffen, sie in Signale umwandeln, die den Körper eine Handlung vollziehen lassen, geben ihm das Gefühl ein wenig Kontrolle über sein Leben zu haben. Er sieht den Menschen, die ihm entgegenkommen ins Gesicht. Er lächelt sie an. Irgendwann hat er damit aus einer Laune heraus angefangen und jetzt wird er diese Gewohnheit nicht mehr los. Früher, war er dafür bekannt, finster drein zu blicken. Wie oft sagten die Menschen zu ihm: "Lach doch mal." Aber es ist ja klar, dass "Lach doch mal" - das letzte ist, was einen dazu bringt, zu lachen, also wirklich zu lachen oder zu lächeln und nicht nur die Mundwinkel nach oben zu ziehen, bis die Zähne zu sehen sind und man aussieht wie ein perverser Clown.  Eigentlich, und daran erinnert sich Silvio immer wenn er lächelt, ist lachen nur ein evolutionäres Überbleibsel einer Verte...

#410 Bibelfliege

Steve sitzt an seinem Küchentisch. Der Tisch ist aus einem hellen Holz gefertigt, er hatte ihn gebraucht gekauft, einige dunkle Verfärbungen, dort wo schon vor ihm jahrelang Menschen ihre Arme abgelegt hatten. Erst beim Essen und später auch die Köpfe nach langen Trinknächten. Da sind auch Kerben, wo rohes Fleisch und Zwiebeln direkt auf dem Holz geschnitten wurden. Vielleicht sogar, so denkt er sich, hat auf diesem Tisch mal jemand Buchstaben aus einer Zeitung für einen Erpresserbrief mit dem Teppichmesser ausgeschnitten und dabei kleine Kerben hinterlassen.  Er fährt mit seiner Hand über den Tisch. Hinter ihm fällt flaches Sonnenlicht durch das Fenster. Die Blätter der beiden Bäume auf dem Hof verlieren langsam ihr Grün, aber der Wind ist noch nicht stark genug, sie von den Ästen zu reißen. Neben dem Tisch hängt ein Schrank, der zu der ebenfalls gebrauchten Einbauküche gehört, die Steve einer Frau abgekauft hat, die aus ihrer Stadtwohnung aufs Land zog. "Aus gesundheitlichen Gr...