Direkt zum Hauptbereich

Eigene Welt machen, vor allem aber nicht mehr raus da.

Ich stand weit oben. Von links hinter mir, von vorne und auch von allen anderen Seiten drang Musik , Gesang und Gespräch an meine Ohren, die in letzter Zeit leicht sirren. Es war elektronische Musik, es war melodische Musik mit Blasinstrumenten gespielt, es war rhythmische Musik südamerikanischer Prägung mit hohem Perkussionselement und Zupfinstrumenten. Alles vermischte sich zu einem Brei, dessen Bestandteile ich nicht mehr von einander trennen konnte. Es war ein Straßenfest. Es war der Ausdruck von Freiheit von kultureller Vielfalt, eine Präsentation der eigenen Welten. Jede für sich.  Eine Kakophonie. Das große Ganze. Das Gemeinsame: der Ort. Mehr nicht. 

So weit, so pessimistisch, so menschenfeindlich. 

Es folgt das völkische Aber:

Aber, die gleichzeitige Präsentation der verschiedenen Musiken und Welten gibt dem Besucher auch die Möglichkeit in sie hinein zu schauen und von einer in die andere zu treten. Ich glaube, dass ist der Gedanke dahinter. Und das keinem etwas weh tut, keiner sich provoziert fühlt und letztlich jeder in seiner Welt bleibt. Zumindest all jene, die sowieso konform gehen und die, die nicht konform gehen sind gar nicht da.

So stand ich dann also, abgrenzt, weil ich wie immer Angst habe, dazu zu gehören und weil ich häufig glaube, keine Welt zu haben und betrachtete das Gemenge und dachte: "Das keinem etwas weh tut" dann "Musik die keinem weh tut" - das könnte doch ein guter Albumtitel sein. Zynisch hoch zehn. Kommt auf jeden Fall auf die Liste. 

Die technoide Musik setzte sich dann am längsten und am lautesten durch Bassmacht durch. Bass ist ja Energie, die man im Körper, sofern man eine Verbindung zu jenem hat, spürt und so zieht es die Menschen magisch an den Ort an dem sie ihre Körper spüren können. 

Die Rhythmen (ich weiß immer noch nicht und nie, ob ich Rhythmus falsch oder richtig schreibe!) sind sehr gleichmäßig, getragen von vier bassigen Schlägen, bzw Tritten auf den Grundzählzeiten. Der Experte spricht hier von den "Vier auf dem Flur" oder den "Vier auf dem Fußboden". Und hier kommt der Gedanke, der sich darauf hin in meinem Hirn Platz schuf: Die regelmäßigen Rhythmen bieten den Menschen Sicherheit, einen Ort der Regeln, nach dem sie sich in ihrem sonstigen Leben und unseren "Zeiten der Unsicherheit" zutiefst sehnen. 

Es ist der gleichmäßige Rhythmus der Stanzpressen und Webstühle, ein Relikt aus der Zeit der Fabrikarbeit und Stechuhr, der in den Dienstleistungsangestellten und Auszubildenden der geistigen Berufe eine Sehnsucht entfacht, die sie beim Bewegen ihrer Körper und der Synchronisation selbiger zur "Musik" zu stillen wissen.

Die Musik wurde dann irgendwann ausgemacht, der Müll beseitigt und der Himmel war wieder grau. Ich fuhr umgeben von Nationalsport-bedingter Stille über ein wildes Weizenfeld und durchquerte Schluchten von Neubaublöcken, bevor ich die Kopfhörer aufsetzte und im Schein meines Computermonitors an einem Song namens "Wand" arbeitete. 

Auch er hat regelmäßige Rhythmen, aber auch wogende Klänge. Die stehen für den im Wind wiegenden Weizen oder das Schmieröl des Webstuhls...als dann der nächste Morgen kam und ich halbwach und traumlos herumlag, nahm ich von draußen hereinkommend schwebende Klänge wahr. 

3 langsam wechselnde wiederkehrende Töne von warmer Natur. 

Ich war mir sicher, dass sie aus dem Himmel kämen und eine außerirdische Macht erst Kontakt mit der Menschheit aufnehmen und dann einen Unterjochungsfeldzug starten würde. Der mit diesen 3 Tönen beginnt. Da wäre dann auch endlich die Sehnsucht nach Sicherheit und regelmäßigem Arbeitsrhythmus gestillt, wenn wir alle gemeinsam an den Maschinen der Spezies stehen würden.

2 Minuten später kamen die "Vier auf dem Flur" herein und ich wusste:

Es ist Menschenmusik.

T.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

#412 Atemschrei

Seit 10 Jahren kehrte er das Treppenhaus eines Buchlagers. Ein alter Plattenbau mit Stufen aus glattem Beton und definierten Winkeln und Kanten. Nicht wie die ausgetretenen Holzstufen im Nebengebäude der Tierpathologie, in der er vorher angestellt war. Den Dreck dort aus den Rissen und Fugen herauszubekommen, dauerte Stunden. Aber hier auf dem Beton fühlte es sich an wie ein Tanz, wenn er den Besen in sanften Wellen über den Boden schwang. Auf dem Weg dort hin und zurück kam er jeden Tag an einem kleinen Geschäft vorbei. Lange Zeit war es ein Imbiss, betrieben von einer Frau und einem Mann, die Filterkaffee, Cola in Dosen und zwei Sorten Flaschenbier verkauften. Dazu ganz akzeptable Pommes aus einer in die Jahre gekommen kleinen Fritteuse.  Als er sich entschloss, mit den beiden einmal mehr Worte zu wechseln, als "Eine Cola, bitte."   - "1,20" und "Stimmt so." teilte ihm die Frau mit, dass sie in zwei Wochen endgültig schließen - Rente. Beide hatten bis z...

#411 Lachwald

Die nassen Blätter der Bäume im Wald hängen tief, so tief, dass sich Silvio entscheidet, den Arm zu strecken und sie zu berühren. Eine Entscheidung bewusst treffen, sie in Signale umwandeln, die den Körper eine Handlung vollziehen lassen, geben ihm das Gefühl ein wenig Kontrolle über sein Leben zu haben. Er sieht den Menschen, die ihm entgegenkommen ins Gesicht. Er lächelt sie an. Irgendwann hat er damit aus einer Laune heraus angefangen und jetzt wird er diese Gewohnheit nicht mehr los. Früher, war er dafür bekannt, finster drein zu blicken. Wie oft sagten die Menschen zu ihm: "Lach doch mal." Aber es ist ja klar, dass "Lach doch mal" - das letzte ist, was einen dazu bringt, zu lachen, also wirklich zu lachen oder zu lächeln und nicht nur die Mundwinkel nach oben zu ziehen, bis die Zähne zu sehen sind und man aussieht wie ein perverser Clown.  Eigentlich, und daran erinnert sich Silvio immer wenn er lächelt, ist lachen nur ein evolutionäres Überbleibsel einer Verte...

#410 Bibelfliege

Steve sitzt an seinem Küchentisch. Der Tisch ist aus einem hellen Holz gefertigt, er hatte ihn gebraucht gekauft, einige dunkle Verfärbungen, dort wo schon vor ihm jahrelang Menschen ihre Arme abgelegt hatten. Erst beim Essen und später auch die Köpfe nach langen Trinknächten. Da sind auch Kerben, wo rohes Fleisch und Zwiebeln direkt auf dem Holz geschnitten wurden. Vielleicht sogar, so denkt er sich, hat auf diesem Tisch mal jemand Buchstaben aus einer Zeitung für einen Erpresserbrief mit dem Teppichmesser ausgeschnitten und dabei kleine Kerben hinterlassen.  Er fährt mit seiner Hand über den Tisch. Hinter ihm fällt flaches Sonnenlicht durch das Fenster. Die Blätter der beiden Bäume auf dem Hof verlieren langsam ihr Grün, aber der Wind ist noch nicht stark genug, sie von den Ästen zu reißen. Neben dem Tisch hängt ein Schrank, der zu der ebenfalls gebrauchten Einbauküche gehört, die Steve einer Frau abgekauft hat, die aus ihrer Stadtwohnung aufs Land zog. "Aus gesundheitlichen Gr...